cash.ch: Der Kampf zwischen 'Kapitalismus' und 'Kommunismus' ist zurück. Das sieht man ein Jahr nach der Invasion Russlands in die Ukraine auch bei den zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China. Aber ist der Begriff 'Zeitenwende' dafür noch treffend?

Thomas Straubhaar: Ja. Der Begriff bietet nach wie vor eine treffende Charakterisierung der Ereignisse. Wir erleben nicht bloss eine politische, sondern auch eine ökonomische und ebenso eine intellektuelle Zeitenwende. Die für Europa sehr lange sehr erfolgreiche Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit wurde brutal gekappt. Alte Grundsätze wie 'Wandel durch Handel' sind empirisch widerlegt worden. Alte nationale Reflexe tauchten wieder auf. Politische Probleme werden nicht mehr durch Verhandlungen und Suchen nach Kompromissen innerhalb einer multilateralen Weltwirtschaftsordnung zu lösen versucht, sondern durch die Macht des Stärkeren. Diese Entwicklungen werden kaum und sicher nicht so schnell reversibel sein. In diesem Sinn ist es ein Ende der alten Weltordnung. 

Was meinen Sie mit der intellektuellen Zeitenwende?

Es ist ein Wandel, den zum Beispiel in Deutschland die politische Linke und vor allem die Grünen erfasst hat. Militärausgaben werden plötzlich nicht mehr als lästige Pflicht betrachtet, sondern als dringende Notwendigkeit. Das Wort 'Leopard' wird von den Grünen nun nicht mehr als Problemverursacher, sondern als Problemlöser gesehen. Es ist auch so, dass nach dem militärischen Schlag in der Ukraine viele nostalgische Gefühle für Russland und alternative politische Systeme zerstört wurden.

Sie schrieben in einer Kolumne in der 'Welt', dass sich Deutschland lange Zeit unter dem amerikanischen Nuklearschild in Sicherheit befand. Die USA bezahlten, und Deutschland fuhr als Trittbrettfahrer mit. Müsste Ihre Aussage der Trittbrettfahrerei nicht auch für die Schweiz gelten?

Absolut, wenn auch in etwas verminderter Form. Das alte Geschäftsmodell Deutschlands und eben auch der Schweiz bestand im Prinzip aus drei Säulen. Es wurde, erstens, lange Zeit billige Energie importiert, die dann, zweitens, zu hochwertigen Exportgütern veredelt wurde. Deutschland führte seine Produkte vor allem nach China aus, die Schweiz hatte eine breitere Abnehmerpalette. Dies alles fand, drittens, unter dem nuklearen Schutzschild der USA statt. Europa konnte also lange Zeit eine 'Friedensdividende' realisieren, indem vor allem in Deutschland konstant versprochen wurde, dass 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungs- und Verteidigungsausgaben bezahlt würden. Das Versprechen wurde aber kein einziges Mal nur annähernd eingelöst. Insofern ist auch die Schweiz eine Trittbrettfahrerin. Sie hat vom US-Engagement für die marktwirtschaftliche, kapitalistische und freiheitliche Welt profitiert. Die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit mit den Prinzipien des freien Handels und der Globalisierung war im Prinzip ein Geschenk der USA an Europa. Die Ordnung liess grosse Länder eher klein und kleine Länder eher gross werden. Denn beim Multilateralismus hatten alle Länder, ob gross oder klein, eine einzige Stimme. Das ermöglichte allen eine Mitbestimmung auf Augenhöhe. Die Macht des Rechts brach das Recht der Macht.

Können Sie das präzisieren?

Nach nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die einzige grosse Wirtschaftsmacht. Aber auf dem Gruppenbild, das am letzten G7-Gipfel 2022 aufgenommen wurde und das ich auch in meinen Vorlesungen zeige, sind neun Personen zu sehen. Davon waren alleine sechs Personen aus Europa, die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, mitgezählt. Die USA, zusammengesetzt aus 50 Bundesstaaten, war dagegen mit nur einer Person und Stimme dabei, nämlich Präsident Joe Biden. Ich denke, das wird sich in Zukunft ändern. Die USA werden sich das politische Übergewicht Europas nicht mehr bieten lassen.

In Europa tobt seit einem Jahr ein Krieg, doch von Berlin bis Rom ist man sich uneins über Militärhilfe. Da taucht Biden aus den fernen USA diese Woche überraschend zu einen Besuch in Kiew auf. War der Besuch Bidens nicht etwas peinlich für die Regierungen Europas?

Ja, er hatte und hat für Europa Vorbildcharakter. Der Besuch war ein klares Statement und hatte enorme Symbolkraft. Klar wurde: Die USA sind da, aber sie wollen das Ganze nicht mehr alleine finanzieren. Die Aussenwirtschaftspolitik von Joe Biden unterscheidet sich ja nicht wesentlich von derjenigen von Donald Trump. Die Botschaft heisst: Die USA sind nicht mehr bereit, die Lösungen der Probleme Europas einseitig zu finanzieren. 

Sie sind ein starker Befürworter der Globalisierung und fordern vom Westen nach der schleichenden Deglobalisierung in den letzten rund zehn Jahren wieder eine Öffnung der Märkte. Ist eine solche Reglobalisierung der Wirtschaft nach den Implikationen von Corona und der 'Zeitenwende' überhaupt noch möglich?

Die Globalisierung ist so unverzichtbar wie zuvor. Alle grossen Herausforderungen der Zukunft haben eine globale Dimension. Klima, Umwelt oder Artensterben betreffen alle Länder und können nur global bewältigt werden. Das betrifft auch Pandemien, Sicherheitsfragen oder Innovation für erneuerbare Energien. Wir müssen wieder zu den globalen Strukturen zurückkehren. Der Weg dorthin wird aber viel beschwerlicher und teurer sein als vor zehn oder vor 50 Jahren. Deshalb ist auch das, was wir heute als Teuerung bezeichnen, keine Inflation im klassischen Sinn, also Folge einer zu expansiven Geldpolitik oder zu tiefen Zinsen. Sondern die Teuerung widerspiegelt ein längerfristiges Phänomen. Viele Kosten der Globalisierung wurden früher nicht richtig bewertet und wurden zulasten Dritter verursacht wie zum Beispiel der Umwelt, dem Klima oder Billiglohnländern. Eine Globalisierung auf Kosten Dritter, das ist vorbei. 

Es spricht trotzdem einiges gegen eine wirtschaftliche Reglobalisierung, wie Lieferkettenprobleme oder die plötzliche Medikamentenknappheit zeigten. Auch Handelsbeziehungen zu Schurkenstaaten sind nicht mehr akzeptiert. Home- und Friendshoring, also die Produktionsverlagerung in heimische Gefilde oder in vertrauenswürdige Länder, werden doch Auftrieb erhalten?

Ich sehe da keinen Widerspruch zu Bemühungen einer raschen Reglobalisierung. Eine Globalisierung zu Vollkosten führt sicher dazu, dass ein Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten wieder in die lokale Nachbarschaft zurückgeholt wird. Globalisierung führt nämlich, bei allen Vorteilen, zu gestiegenen Transaktionskosten. Dazu gehören Abhängigkeiten, Lieferprobleme, Transportkosten,  Kosten der Rechtsdurchsetzung, auch Umwelt- und Klimafaktoren. In den letzten rund 70 Jahren haben wir diese Transaktionskosten vernachlässigt oder auf Dritte überwälzt. Das wird und muss sich nun ändern, die Transaktionskosten werden steigen. Es wird eine neue Balance geben zugunsten lokaler und zulasten globaler Verflechtungen. Das macht einiges teurer, aber deswegen nicht schlechter, sondern besser. Die Transaktionskosten spielen in der Lehre der Makroökonomik eine sehr geringe Rolle. Im praktischen Leben sind sie aber viel bedeutsamer. Sie sind Teil der gesamtwirtschaftlichen Kosten. Und Kostenwahrheit über alle Teile ist auch für die Marktwirtschaft unverzichtbar.

Es gibt Zukunftsszenarien einer primär westlichen Handelssphäre mit Europa und den USA und eines 'autokratisch' dominierten Handelsraumes mit Russland und China an der Spitze, zwischen den Blöcken finden vielleicht Länder wie Indien Platz. Einverstanden?

Das war schon immer die 'Lieblingswelt' von Vladimir Putin. Der britische 'Economist' schrieb bereits in den 2010er Jahren darüber, dass Putin von einer multilateralen Welt zu einer multipolaren Welt wollte. Putin sah Russland immer als einer dieser Pole, auf einer Höhe mit den USA, China oder Indien. In der multilateralen Welt dagegen sah Putin Russland als nachrangigen Teil einer westlichen, amerika-dominierten Weltordnung - etwa auf dem Niveau von Malta oder Luxemburg. Das haben wir im Westen wohl zu wenig realisiert. Der Klub der westlichen Demokratien, vor allem die Staaten Europas, muss sich darauf einstellen, wie europäische Interessen, Werte und Ideale in dieser polaren Welt durchgesetzt werden können. Dass etwa der Schweiz dies alleine gegen Russland gelänge, ist sehr fraglich. Ebenso wenig dürfte das gegenüber Indien und China oder der Türkei der Fall sein. Auch mit den USA wird es wohl schwieriger für die Schweiz. Einfach war es ja eigentlich auch bis anhin nicht, wenn ich hier den teils massiven Druck der Amerikaner auf Schweizer Banken in Sachen Regulierung erwähnen darf. In einer polaren Welt muss sich die Schweiz mit europäischen oder gleichgesinnten Ländern organisieren, um dagegenhalten zu können.

Ein wesentlicher Faktor der Globalisierung war China, nun ist das Land ein Unsicherheitsfaktor geworden. In Gesprächen frage ich Chefs von Schweizer Firmen, die in China tätig sind, regelmässig nach ihren Zukunftsperspektiven in diesem Land. Die Antworten sind oft ausweichend. Wie beurteilen Sie die Lage für ausländische Firmen in China?

Ich habe mich verschiedentlich kritisch zu China-Themen geäussert. Die Reaktionen aus diplomatischen Kreisen aus Peking haben mir jeweils gezeigt, wie intensiv der deutsche Nachrichtenfluss in China beobachtet und ausgewertet wird (schmunzelt). Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation gab der Globalisierung gewaltigen Rückenwind. Aber es war schon damals klar, dass dieses Wachstum, das historisch betrachtet einer Exponentialfunktion gleichkam, nicht ewig so weitergehen konnte. Deshalb sollte man bei all den berechtigten unternehmerischen Hoffnungen und Chancen in China auch die Risiken nicht ausser Acht lassen. Die Margen in den China-Geschäften sind im Lauf der 2010-Jahre bereits deutlich gesunken, die Risiken in Form von Abhängigkeiten sind dagegen gestiegen. Man konnte mit China zunehmend nur noch Geschäfte machen zum Preis eines Technologie-Transfers. Dabei standen die Erträge in keinem Verhältnis zu den Entwicklungskosten dieser Technologien. Ich würde den Schweizer Unternehmern raten: Ja, macht weiter mit China Geschäfte. Aber seid extrem vorsichtig, vor allem wenn öffentliche Interessen im Spiel sind. Das kommunistische China verkörpert in Perfektion das kapitalistische Grundgesetz: 'There is no free lunch' - niemand bekommt etwas geschenkt.

Deutschland und Europa sind derzeit wirtschaftlich viel besser unterwegs als noch vor ein paar Monaten befürchtet. Wähnt man sich in falscher Sicherheit?

Ich bleibe bei meinen optimistischen Aussichten für die 2020er Jahre, die ich schon vor der Pandemie und dem Angriffskrieg auf die Ukraine geäussert hatte. Die makroökonomischen Rahmenbedingungen sind positiv. Zwei wichtige Basiseffekte bleiben stark: Das sind die wachsende Weltbevölkerung und die Aufholprozesse von armutsbetroffenen Bevölkerungen. Erst die Geldpolitik und nun die Fiskalpolitik haben vorerst geholfen, die gröbsten Verwerfungen zu verhindern. Aber deren langfristigen Folgen werden in den nächsten Jahren Bremsspuren hinterlassen, auch in der Schweiz. Die Inflation ist ein Wohlstandskiller. Realwirtschaftlich und auf einem Niveau wie in der Schweiz bleibt dies aber erträglich. Die Arbeitsmärkte bleiben stabil, und der Digitalisierungsschub wird zu einem Produktivitätsfortschritt und zu neuem Wohlstand führen.

Dann bleiben Sie auch in Sachen Investieren und Aktien auf lange Sicht ein Optimist?

Klar. Investieren in Sachwerte bleibt der beste Schutz gegen Inflationsentwicklungen, die, wie oben erwähnt, nicht bloss ein monetäres Problem sind, sondern Ausdruck von langfristigen strukturellen Transformationsprozessen. In den nächsten zehn Jahren werden wir in einigen Bereichen immense Nachfrage nach Investitionen haben: Alles, was mit Sicherheit und Schutz zu tun hat, wird boomen - von Cyber Security bis hin zu Versorgungssicherheit mit neuen Lagertechnologien. Zentral werden aber auch Themen sein, die mit längerem und gesünderem Leben zu tun haben. Also die Bereiche Biotechnologie, Life Science, Medizin, Pharmazie. Das dritte grosse Thema wird Datenökonomie und Digitalisierung sein. Da stehen mit Künstlicher Intelligenz und wahrhaftiger Mobilität Veränderungen an, die gleichermassen nahezu alle alten Geschäftsmodelle in Frage stellen und gleichzeitig vielen neuen Ideen zum Durchbruch verhelfen werden.

Der Volkswirtschafter Thomas Straubhaar (geb. 1957) ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Von 1999 bis 2014 leitete er das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut HWWI und dessen Vorgängerinstitut HWWA. Straubhaar war auch Gastprofessor an der UNAM und ITAM in Mexico City und Research Fellow der Transatlantic Academy in Washington DC. Der Berner lebt seit über 30 Jahren in Hamburg.