Einen Monat nachdem Grossbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatte, war Boris Johnson gefragt worden, ob er der Meinung sei, die Finanzindustrie würde ihr Recht auf freien Handel in Europa behalten. “Das tue ich, das tue ich”, sagte er vor Reportern. Doch so einfach war es nie.

Ein halbes Jahrzehnt später sind Milliarden an Vermögenswerten und Tausende von Arbeitsplätzen auf den Kontinent umgezogen, nachdem Großbritannien ein spärliches Handelsabkommen mit der EU ausgehandelt hatte, das die Finanzbranche außen vor liess. Städten wie Amsterdam, Dublin, Frankfurt und Paris gab es dagegen die Chance, Arbeitsplätze und Handelsaktivitäten aus Großbritannien auf das Festland zu holen.

Einen klaren Sieger gibt es bislang nicht. Unternehmen und Mitarbeiter sind grossteils noch dabei, herauszufinden, welche Stadt in der neuen Realität am besten zu ihnen passt. Frankfurt, Amsterdam, Paris und Dublin dürften Teile des Finanzsystems übernehmen, sagte die für Finanzdienstleistungen zuständige EU-Kommissarin Mairead McGuinness im März vor Journalisten. “Die Märkte werden das entscheiden und sind wahrscheinlich am besten geeignet, das zu tun.”

Großbritannien und die EU wollen sich bis Ende März zumindest auf grundlegende Spielregeln für die Finanzwelt einigen.

“Ich glaube nicht, dass man ein Finanzzentrum erschaffen kann” sagte Douglas Flint, Vorsitzender des britischen Fondsmanagers Standard Life Aberdeen. “Die Herausforderung der EU besteht in der Entscheidung, wo ein solches Zentrum sein soll und wie sie konkurrierende EU-Länder dazu bringen will, entsprechende Aktivitäten dorthin abzugeben.”

Das ist bisher passiert

Aktienhandel: Der Handel von europäischen Aktien, der vorher in Großbritannien abgewickelt wurde, verlagerte sich am 4. Januar schlagartig in die EU. London verlor seine Krone als führender Handelsplatz in Europa an Amsterdam. Als Trostpflaster werden dort seit Februar wieder Schweizer Aktiengehandelt, was nicht möglich war, als Großbritannien noch EU-Mitglied war. Großbritannien will nun durch einfachere Regeln für Börsengänge mehr Unternehmen nach London holen.

Handel von Swaps: London ist seit langem ein globales Zentrum für den Handel mit Zinsswaps. Die Dominanz der Stadt litt jedoch, nachdem die EU ihren Unternehmen verboten hatte, bestimmte Benchmark-Kontrakte auf Plattformen mit Sitz in London zu handeln. Ein Teil dieser Geschäfte hat sich an die Wall Street verlagert.

Clearing von Derivaten: Die Clearingstelle LCH der London Stock Exchange hat sich mit der EU geeinigt, europäisches Geschäft noch bis Juni 2022 abzuwickeln. Die EU macht deutlich, dass sie danach eine Verschiebung der Machtverhältnisses erwartet. Die Bank of England will verhindern, dass es zu Verlagerungen kommt.

Investment Banking: Börsengänge sind ein weiterer Bereich, in dem der Londoner Finanzdistrikt seine Rivalen in Kontinentaleuropa überragt. Börsengänge in Großbritannien sind auf Kurs für ein Rekordquartal. Unternehmen vom Stiefelmacher Dr. Martens bis zum russischen Discounter Fix Price sammelten dieses Jahr bereits 7,2 Milliarden Dollar ein.

Für M&A-Banker war es bislang ein gutes Jahr. Unternehmenskäufe ausländischer Firmen in Großbritannien haben sich in diesem Jahr auf 66 Milliarden Dollar bereits fast verdreifacht, so Daten von Bloomberg. Übernahmen von börsennotierten britischen Unternehmen haben sich mehr als versiebenfacht. Dies könnte jedoch Schwäche widerspiegeln. Britische Unternehmen sind zu attraktiveren Übernahmezielen geworden, da ihre Bewertungen im vergangenen Jahr hinter anderen wichtigen Märkten zurückgeblieben sind.

Jobs und Vermögenswerte: Laut einer Studie von EY haben Finanzunternehmen angekündigt, rund 7.600 Arbeitsplätze aus Grossbritannien in die EU verlagern zu wollen. Etwa 1,3 Billionen Pfund (1,5 Billionen Euro) an Vermögenswerten ziehen ebenfalls um. Dublin hat die größte Anzahl an Unternehmen angezogen, die in die EU abgewandert sind. Frankfurt und Paris waren beliebt bei größeren Unternehmen wie Universalbanken, Investmentbanken und Maklern.

Immobilienpreise: Steueränderungen und eine vergleichsweise schwache Wirtschaft hatten wohl den größten Einfluss auf die britischen Immobilienpreise. Der Brexit und Abwanderungen von Bankern könnten den Trend jedoch verschärfen. Seit das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der EU gestimmt hat, sind die Immobilienpreise in London um 6 Prozent gestiegen, verglichen mit 20 Prozent in Dublin und 40 Prozent in Amsterdam.

(Bloomberg)