cash.ch: Herr Stucki, der Dollar ist zum Franken im November regelrecht abgestürzt. Der Fall um etwa 6 Prozent wäre der grösste Monatsverlust des Dollars seit Januar 2015. Kam das überraschend für Sie?

Thomas Stucki: Dass der Dollar zum Franken gesunken ist, überraschte mich nicht. Der Anstieg auf 1.01 Franken war in dieser Höhe trotz der Zinserhöhung der Fed um 0,75 Prozent nicht gerechtfertigt. Ein Absturz einer Währung in dieser Grössenordnung und in dieser kurzen Zeit ist jedoch ein seltenes Ereignis und in seinem Ausmass nicht zu erwarten. Wir sprechen hier ja nicht von einer Währung aus einem kleinen Schwellenland, sondern von der grössten und wichtigsten Währung der Welt.

Stecken da nur die etwas abgeschwächten US-Inflationszahlen dahinter oder gibt es andere Gründe?

Die tieferen Inflationszahlen und das gesunkene Konsumentenvertrauen in den USA am Tag danach waren nur der Auslöser, der die Kaskade in Gang gesetzt hat. Damit der Dollar so stark fällt, müssen Trades mit sehr grossen Volumen stattgefunden haben. Der naheliegendste Grund liegt in grossen Long-Positionen auf einen steigenden Dollar, die beim Einsetzen der Verluste schon fast panikartig geschlossen werden mussten und immer mehr Stop-Loss-Aufträge getriggert haben. Woher diese kamen, ist schwierig zu sagen.

Wird die Abwärtsdynamik beim Dollar kurzfristig anhalten?

Der Dollar hat sich auf dem tieferen Niveau stabilisiert. Er hat ja nur die Aufwertung zum Franken seit Mitte September wieder preisgegeben. Kurzfristig erwarte ich eine neuerliche Gegenbewegung, aber diesmal nach oben. Der Absturz war zu stark. Zudem wird die Fed ihre Zinsen weiter anheben und in ihrer Kommunikation weiterhin betonen, dass die Inflationsbekämpfung bei ihrer Geld- und Zinspolitik Vorrang hat. Der Dollar wird zum Franken die Parität aber nicht mehr erreichen.

Zur Geldpolitik: Inwiefern wird die angedeutete Entspannung bei der Inflation in den USA die Zinspolitik der Fed nun beeinflussen?

Dafür müssen wir die Inflationsdaten der nächsten Monate abwarten. Der Rückgang der Inflation in den USA hat viel mit dem gesunkenen Benzinpreis zu tun. Die Kernrate ohne Energie- und Nahrungsmittel ist zwar im Oktober auch leicht tiefer ausgefallen, bewegt sich aber seit dem Sommer auf einem deutlich zu hohen Niveau seitwärts. Getrieben wird sie vor allem durch Preiserhöhungen im Dienstleistungsbereich. Dabei spielen die Lohnsteigerungen eine wichtige Rolle. Für eine Entwarnung bei der Fed ist es noch zu früh. Sie wird deshalb an ihrem geplanten Zinserhöhungspfad festhalten.

Werden die jüngsten Kursbewegungen, insbesondere eine mögliche weitere Aufwertung des Frankens auch zum Euro, den Zinssentscheid der SNB Mitte Dezember beeinflussen?

Die SNB wird sich bei ihrem Zinsentscheid nicht von kurzfristigen Schwankungen beim Franken beeinflussen lassen. Wie stark sie im Dezember den Leitzins erhöhen wird, hängt in erster Linie von ihrer Einschätzung der Inflationsprognose ab. Da die EZB und die Fed im Dezember ihrerseits die Zinsen erneut anheben werden, wird die Zinsdifferenz zwischen der Schweiz und der Eurozone respektive den USA sehr gross werden. Dies gibt der SNB den nötigen Spielraum, bei Bedarf eine Erhöhung des Leitzinsen um 0,75 Prozentpunkten vorzunehmen.

Die Inflationszahlen waren ja auch in der Schweiz zuletzt etwas tiefer. Inwieweit werden diese aktuellen Teuerungs-Trends bei der SNB-Zinsfindung berücksichtigt?

Ähnlich wie in den USA darf man in der Schweiz den Rückgang der Inflationsrate nicht überschätzen. Viel hat mit stark schwankenden Preisen wie dem Benzinpreis zu tun. Zudem dürfte die Inflation in der Schweiz zu Beginn des nächsten Jahres wieder etwas steigen, wenn administrierte Preise wie der Strompreis in die Inflationsrechnung einfliessen. Für den Zinsentscheid der SNB wird es wichtiger sein, wie sie den grundlegenden Inflationsdruck in der Wirtschaft einschätzt. Dabei ist festzustellen, dass sich die Preiserhöhungen auf immer mehr Bereiche und Produkte ausbreiten. Das wird der SNB nicht gefallen, wie sie es bei verschiedenen Gelegenheiten ja auch gesagt hat.

Der Markt erwartet im Dezember eine SNB-Leitzinserhöhung um derzeit nur rund 40 Basispunkten. Was ist Ihre Erwartung?

Ich gehe von einer deutlich grösseren Zinserhöhung aus. Die Zinsen in der Schweiz sind mit 0,50 Prozent immer noch sehr tief und bei weitem kein Bremsklotz für die Konjunktur. Eine Erhöhung von 0,75 Prozentpunkten wäre im aktuellen Inflations- und Konjunkturumfeld deshalb für mich angebracht.

Wäre bei einer SNB-Zinserhöhung von 0,75 Prozentpunkten mit einer weiteren beziehungsweise einer erneuten Frankenaufwertung zu rechnen?

Bis zum 15. Dezember kann sich in der Markterwartung noch sehr viel ändern. Bleibt es bei den aktuellen 40 Basispunkten, würde der Franken bei einer SNB-Zinserhöhung von 0,75 Prozentpunkten kurzfristig teurer. Die Erfahrung zeigt aber, dass solche Zinseffekte im Devisenmarkt rasch verpuffen. Wichtiger wird sein, welche Erwartung der Markt aus den Entscheiden der SNB und der anderen Zentralbanken für die Zukunft ableitet.

Wo erwarten Sie die Währungspaare Euro/Franken und Dollar/Franken Mitte 2023?

Ich erwarte beide Währungspaare leicht tiefer als heute, bei rund 93 Rappen. Gegenüber dem aktuellen Stand ist das für den Euro eine grössere Bewegung. Die Inflationsrate in der Eurozone wird hartnäckig auf einem hohen Niveau verharren und das Vertrauen in den Euro schmälern. Beim Dollar wird die Fantasie von Fed-Zinserhöhungen im nächsten Sommer kein positiv treibender Faktor mehr sein.