Wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte noch?

Reto Müller: Die Corona-Krise ist natürlich das alles dominierende Thema. Die Märkte reagieren sehr sensitiv auf positive Nachrichten zu sinkenden Infektionszahlen, zur Entwicklung eines entsprechenden Impfstoffs oder Medikaments. Von den Märkten wird viel Hoffnung auf eine baldige, starke Erholung der Wirtschaft eingepreist, die Risiken werden vernachlässigt. Das ist in Anbetracht der grossen Unsicherheit über die weitere Entwicklung dieser Pandemie doch erstaunlich. Denn Covid-19 und dessen wirtschaftlichen und politischen Folgen dürften uns noch lange beschäftigen.

Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?

Der SMI hat sich seit dem 16. März um über 2000 Punkte respektive um mehr als 25 Prozent aufgewertet. Der Vorteil des defensiven SMI ist, dass die Geschäftsmodelle der drei Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche weniger krisenanfällig sind als beispielsweise jene der Banken, Versicherungen oder Luxusgüter. Trotzdem scheint der Zuwachs beträchtlich. Gegenwärtig bevorzugen wir eine defensive Positionierung, da wir davon ausgehen, dass die Volatilität eher hoch bleiben wird.

Wo steht der SMI in zwölf Monaten?

Angesichts der Covid-Pandemie ist das extrem schwierig vorauszusagen. Heute weiss niemand, wie die gesundheitliche Situation in einem Jahr aussehen wird. Wenn es zu einer zweiten Infektionswelle kommt, wäre das sicherlich nochmals ein herber Rückschlag für die Wirtschaft und die Märkte. Grundsätzlich denken wir, dass es besser ist, defensiv und agil zu bleiben. Aus unserer Sicht sind die Risiken weiterhin gross, während die Renditeerwartungen in Anbetracht der anstehenden Rezession eher zu hoch sind. Natürlich wirken die Zentralbanken unterstützend. Aber falls sich die Kennzahlen der Unternehmen und die wirtschaftlichen Erwartungen verschlechtern, hilft das nur bedingt. Qualitätsaktien mit einem langfristigen Anlagehorizont könnten allerdings interessant sein.

Sehen Sie fünf US-Aktien, die Anleger im Auge behalten sollten?

In unserem 'Legg Mason ClearBridge US Equity Sustainability Leaders Fund' haben wir jüngst eine Position mit Comcast aufgebaut, einem führenden US Medien- und Technologieunternehmen. Die Titel von Comcast sind unserer Ansicht nach im Branchenvergleich unterbewertet. Während Kabelnetzanbieter weiterhin steigende Abonnentenzahlen auf dem Breitbandmarkt verzeichnen, schrumpfen die Marktanteile der Telekommunikationsanbieter. Gilead Sciences gefällt uns ebenfalls. Das attraktiv bewertete Biotech-Unternehmen verfügt über eine führende und recht stabile HIV-Sparte, auf die der Grossteil des Umsatzes entfällt. Wir sehen einiges Potential in der Pipeline von Gilead, die vom neu formierten Managementteam erfolgreich vorangetrieben werden kann. So befindet sich Remdesivir, ein Medikament für die Behandlung von COVID-19, in der späten Entwicklungsphase.

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Hasbro ist ein weiterer Neuzugang in unserem Portfolio. Das Unternehmen entwickelt, produziert und vermarktet Spiele und Spielzeug wie Monopoly, My Little Pony, Nerf und Play Doh. Es gibt ein paar Dinge, die wir an Hasbro mögen. Das Unternehmen hat sich traditionell auf sein Kerngeschäft Spielzeug und Brettspiele konzentriert, befindet sich aber in der Transformation zur digitalen Unterhaltung. Auf der Infrastrukturseite sind auch die Aktien von NextEra Energy Partners interessant und Bestandteil von unserem Legg Mason RARE Infrastructure Value Fund. Das Unternehmen betreibt in Nordamerika Wind- und Solarstromanlagen mit Abnahmeverträgen mit einer durchschnittlichen Restlaufzeit von 18 Jahren. Nach dem jüngsten Abschwung im Markt haben sich die Titel des Energieunternehmens zwar stark erholt. Für Investoren sehen wir aber immer noch eine attraktive Gelegenheit. Zumal die Dividende von NextEra Energy Partners bis mindestens 2024 um 12 Prozent bis 15 Prozent steigen soll.

Wagen wir einen Blick in die Kristallkugel: In welchem Zustand wird sich die Schweizer Wirtschaft Ende Jahr befinden, was wird sich verändert haben?

Entscheidend wird sein, ob die Covid-19 Ansteckungsraten tief bleiben und ob die schrittweise Öffnung wieder zu mehr Normalität führen wird. Sollte dies der Fall sein, dürfte sich die Wirtschaft in den letzten beiden Quartalen wieder etwas erholen und die Kurzarbeit könnte wohl nach und nach zurückgefahren werden. Mit einer effektiven Normalisierung rechnen wir jedoch nicht vor 2021. Positiv wird sein, dass die Arbeitsmodelle in Zukunft flexibler sein werden. Wir gehen davon aus, dass der Anteil an Home Office deutlich steigen wird, da die Unternehmen nun im Härtetest gelernt haben, dass dies meist sehr gut funktioniert.

Eine Krise schafft auch Gewinner: Welche Unternehmen, Branchen oder Märkte entwickeln sich stark trotz der allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten?

Ein stärkeres staatliches Engagement mit entsprechenden Investitionen dürfte für viele Volkswirtschaften ein grosses Thema sein. Es ist wahrscheinlich, dass in vielen Ländern Infrastrukturprojekte rascher vorangetrieben werden, insbesondere Pläne für Hochgeschwindigkeitszüge und die 5G-Telekommunikation. Dann ist auch davon auszugehen, dass die Ausgaben für die Gesundheitsinfrastruktur hoch sein werden, damit die Regierungen besser auf die nächste Pandemiegefahr vorbereitet sind. In manchen Ländern dürften die Sicherheitsstandards für Lebensmittel steigen und es wird ein global koordinierter Ansatz zur Überwachung künftiger Pandemiegefahren erforderlich sein. Entsprechend befassen wir uns mit Unternehmen, die von diesen Entwicklungen profieren werden, insbesondere im Industrie- und Gesundheitssektor.

China hat den Corona-Virus früher eingedämmt als Länder im Westen. Wird sich das Land auch wirtschaftlich schneller erholen – und sollten Anleger deswegen auf China setzen? 

China bietet nach wie vor Chancen für langfristig orientierte Investoren. Zu den attraktiven strukturellen Wachstumstrends gehört die weiterhin dynamisch wachsende Mittelschicht. Sie stimuliert den Konsum, vor allem im Bereich von Luxusgütern und Finanzdienstleistungen. Ein grosses Thema bleiben die vielen, vor allem auf China ausgerichteten Unternehmen im Technologiebereich. Auch die zuvor erwähnten Entwicklungen als Folge der Corona-Krise dürften in China die Wirtschaft stimulieren und so neue Chancen bieten. Um diese Chancen auch zu nutzen, ist es wichtig, dass Investoren selektiv und zielgerichtet vorgehen.

Reto Müller ist Client Relationship Manager bei der Fondsgesellschaft Legg Mason. Sein Arbeitsort ist Zürich, wo er als Team Lead Client Service Northern Europe tätig ist und bestehende Kunden betreut. Nebst einem Abschluss der Universität Zürich in Banking & Finance hält er ein Banking Diplom von der Schweizerischen Bankiervereinigung.

Das Interview erschien zuerst bei handelszeitung.ch unter dem Titel: «Gilead Sciences gefällt uns ebenfalls».