cash: Den Rechnungslegungsgrundsatz Swiss GAAP FER wenden KMU, aber auch Konzerne wie Swatch und Georg Fischer an. Gibt es einen Trend weg vom internationalen Standard IFRS?

Peter Leibfried: In der Tat hat sich seit der Finanzkrise 2008 die Zahl der nach Swiss GAAP FER bilanzierenden börsenkotierten Unternehmen deutlich erhöht, von rund 50 auf rund 80, zu Lasten der IFRS. Grossmehrheitlich handelt es sich hierbei um kleinere Unternehmen, die über eine starke schweizerische Verankerung verfügen, vor allem bei Aktionären und Verwaltungsrat. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir hier noch einige Wechsel sehen werden, aber irgendwann findet diese Entwicklung ein Ende. Denn es gibt auch viele börsenkotierte Unternehmen, die aufgrund ihrer internationalen Stakeholder derzeit nicht um die IFRS herumkommen. Das gilt insbesondere für grössere, internationale Konzerne.

Gibt es Unternehmen oder Branchen, für die sich Swiss GAAP FER nicht eignen?

Gemäss dem Einführungskapitel unseres Regelwerks fokussieren sich die Swiss GAAP FER auf die Rechnungslegung kleiner und mittelgrosser Organisationen und Unternehmensgruppen mit nationaler Ausstrahlung. Dort passen sie konzeptionell am besten. Für Unternehmen der Finanzbranche spielen darüber hinaus die Vorgaben der FINMA meistens eine wichtigere Rolle. Jede Unternehmensleitung muss aber selbst entscheiden, nach welchem Regelwerk sie bilanziert.

Was spielt die Unternehmensgrösse für eine Rolle?

Die Häufigkeit der Anwendung von Swiss GAAP FER hat in der Tat etwas mit der Unternehmensgrösse zu tun: bei den Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden wenden 11 Prozent die Swiss GAAP FER an, bei den Unternehmen mit 50 bis 250 Mitarbeitenden sind es bereits 21 Prozent, und bei über 500 Mitarbeitenden rund ein Drittel.

Der Chef der Eidgenössischen Revisionsaufsichtsbehörde, Frank Schneider, hat Unternehmen jüngst vor einem "übereilten" Wechsel zu Swiss GAAP FER gewarnt. Wie ernst nehmen Sie solche Aufrufe?

Als Inhaber eines Lehrstuhls für Revision bin ich überzeugt, dass die RAB eine wichtige Rolle hat, und gute Arbeit macht. Als Präsident des Standard-Setters für Rechnungslegung steht es mir aber nicht an, die Arbeit einer Aufsichtsbehörde für den Revisionsbereich zu kommentieren. In jedem Fall macht es Sinn, die Wahl des Rechnungslegungsstandards nicht "übereilt" vorzunehmen: hierbei handelt es sich um eine grundsätzliche strategische Entscheidung, die langfristige Auswirkungen hat, und eine Menge Geld kosten kann.

Ist für ein KMU ein ausgeklügelter und detaillierter Rechnungsstandard nicht auch eine Bürde? Nicht wenige beklagen sich über hohe Kosten. Zurecht?

Ja, gewiss, das Kosten-Nutzen-Verhältnis muss man im Auge behalten. Wobei für die Rechnungslegung leider immer nur die Kosten einigermassen verlässlich ermittelt werden können; der Nutzen ist breit gestreut. Gleichwohl wollen auch viele KMU – nicht zuletzt im Interesse einer guten betriebswirtschaftlichen Steuerung – eine verlässliche und aussagekräftige Berichterstattung. Die Swiss GAAP FER haben daher einen modularen Aufbau: für kleinere KMU reicht die Berücksichtigung des Rahmenkonzepts und der sogenannten Kern-FER aus, das sind etwa 30 Seiten Regelungen im DIN-A-5-Format. Das sollte zu bewältigen sein.

Man sagt manchmal, Buchhaltung sei "kreativ". Wie flexibel können Unternehmen Swiss GAAP FER anwenden?

Das kommt jetzt darauf an, was mit Kreativität gemeint ist. Wenn es darum geht, vorsätzlich die Investoren in die Irre zu führen, so geht das nach jedem Regelwerk. Hier liegt das Problem nicht in den Standards, sondern es sitzt davor. Das kann man bestens an den vermeintlich so strengen US-GAAP beobachten, wo es regelmässig Missbräuche gibt. Worin sich die Standards allerdings unterscheiden, ist der Anspruch, ob jede Detailfrage im Vorhinein abschliessend zu regeln ist.

Und wie ist dies bei Swiss GAAP FER?

Hier folgen die Swiss GAAP FER konsequent einem prinzipienbasierten Ansatz. Dieser sieht vor, die grundsätzlichen Gefässe und Leitplanken bereit zu stellen, innerhalb derer man sich zu bewegen hat. Die konkrete Umsetzung auf den Einzelfall erfordert dann gewisse Ermessensentscheidungen. Dabei muss aber natürlich dem Anspruch des True and Fair View – also einer neutralen Darstellung der wirtschaftlichen Lage – Rechnung getragen werden. Hier liegt die Verantwortung dann beim Einzelnen, wie in vielen anderen Lebensbereichen auch.

Wie gross sind die Unterschiede zwischen den Swiss-GAAP-FER-Regeln für börsenkotierte und jenen für nicht börsenkotierte Unternehmen?

Das ist ganz klar: Börsenkotierte Unternehmen haben zusätzlich zu den übrigen Standards noch FER 31 zu berücksichtigen, der die wichtigsten Besonderheiten einer breit gestreuten Anteilseignerschaft adressiert: Segmentberichterstattung, aktienorientierte Vergütungen, Ergebnis je Aktie, Zwischenberichte und einige weitere Themen.

Wie schätzen Sie den Reformbedarf in der Rechnungslegung ein?

In den letzten Jahren haben sich praktisch alle Systeme der Rechnungslegung erheblich verändert. Der Umfang der IFRS ist explodiert, die Swiss GAAP FER wurden 2007 neu konzipiert und auf KMU ausgerichtet, und auch die Regelungen im Obligationenrecht wurden neu gefasst. Von daher wäre es schlimm, wenn wir im technischen Bereich jetzt noch grossen Reformbedarf hätten. Man kann es so sagen: die verschiedenen Regelwerke dienen unterschiedlichen Zwecken, aber jedes hat einen hohen Reifegrad erreicht. Für die Zukunft sollten wir uns auf zwei Bereiche fokussieren: erstens die tatsächliche Qualität der Anwendung unserer Regelungen. Denn der beste Standard bringt nichts, wenn die Anwender ihn nicht verstehen, oder nicht mit ihm einverstanden sind.

Und zweitens?

Zweitens  die Erweiterung der Berichterstattung aus der finanziellen Dimension heraus in andere, mindestens ebenso relevante Bereiche, wie es im sogenannten Business Reporting oder der Nachhaltigkeitsberichterstattung zu beobachten ist. Dies sind auf zukünftige Erfolge gerichtete Informationen, die von Interesse sind. Wie bei anderen Entwicklungen auch, werden hierbei aber zunächst die grossen Unternehmen vorangehen, und man wird dann sehen, wie viel davon auch für den Mittelstand sinnvoll ist.

Prof. Dr. Peter Leibfried ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Accounting, Controlling und Auditing an der Universität St. Gallen und Inhaber des KPMG-Lehrstuhls für Audit und Accounting. Er hat in Deutschland, den USA und in der Schweiz studiert und verfügt über langjährige praktische Erfahrungen bei einer grossen Revisionsgesellschaft und in einer von ihm gegründeten Unternehmensgruppe. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen und in verschiedenen fachbezogenen Verbänden engagiert, unter anderem als Präsident der Fachkommission Swiss GAAP FER.

Das Interview mit Prof. Leibfried entstand im Rahmen des Limmattaler Finanzkongresses (LFK) in Baden AG, wo cash Medienpartner war.