Laut dem deutschen Bundesfinanzminister Christian Lindner ist die Gefahr "real" und ein Grossteil der Familienunternehmer fürchtet sich davor. Das Szenario: Bei anhaltend hohem Preisauftrieb gönnen sich die Arbeitnehmer einen kräftigen Schluck aus der Lohnpulle und Firmen setzen die Preise hoch. Die Gewerkschaften begründen wiederum ihre Lohnforderungen mit erhöhten Preisen - eine gefährliche Kettenreaktion kommt in Gang.

"Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ist eindeutig grösser geworden, weil davon auszugehen ist, dass die Inflation länger bleibt und sich dies in den Inflationserwartungen niederschlägt", meint Tarifexperte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Wirtschaftsforschungsinstitut IW in Köln.

Weiter angefacht von einem Energiepreisschub im Zuge der Ukraine-Krise ist die Teuerungsrate zuletzt hierzulande auf 7,4 Prozent gestiegen. Damit ist sie meilenweit über das Ziel der EZB von 2,0 Prozent hinausgeschossen, das die Europäische Zentralbank mittelfristig für den Euroraum anstrebt. Für EZB-Direktorin Isabel Schnabel steht es ausser Zweifel, dass höhere Lohnforderungen kommen werden, wenn die Inflation längere Zeit so hoch bleibt.

Ein erstes Ausrufezeichen hat die IG Metall  gesetzt, die für die kommende Tarifrunde in der nordwest- und der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie eine "ordentliche Erhöhung" der Löhne um 8,2 Prozent verlangt. Ihre Argumentation: Anders als die Beschäftigten könnten die Unternehmen die gestiegenen Kosten weiterreichen und damit in Profit umwandeln. Die Laufzeit soll zwölf Monate betragen. Im Westen ist die erste Verhandlungsrunde am 13. Mai geplant.

Muskelspiel?

Deutschland-Chefvolkswirt Stefan Schneider und Ökonom Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research sehen die Forderung der IG Metall als Warnzeichen, dass die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale real sei und nicht nur Ausgeburt der sprichwörtlichen deutschen Inflationsangst. Die Gewerkschaften könnten angesichts des leer gefegten Arbeitsmarkts versucht sein, "die Muskeln spielen" zu lassen.

IW-Tarifexperte Lesch verweist darauf, dass sich die Stahlindustrie in einer Sonderkonjunktur befinde und die Forderung der IG Metall keinen Abschluss darstelle: "Ich bin der Meinung, dass man jetzt keine Panik machen muss." Doch wenn im Laufe des Jahres die Metall- und Elektroindustrie und auch der Öffentliche Dienst spürbar höher abschliessen sollten, werde sich dies in der gesamtwirtschaftlichen Lohndynamik niederschlagen.

"Ich befürchte, dass es bei diesen zentralen Tarifverhandlungen zu einem Anstieg kommt, nachdem es bisher in kleineren Branchen eher moderate Abschlüsse mit prozentualen Lohnsteigerungen mit einer Drei vor dem Komma gegeben hat."

«Strategische Stellschraube»

Wenn die Gewerkschaftsseite viel fordern sollte, wäre aus Sicht des IW-Experten Lesch auch die Erwartung sehr hoch: "Dann kann es auch sein, dass die Laufzeit eine strategische Stellschraube ist." Laut Bundesfinanzminister Lindner kommt den Tarifparteien in der jetzigen Situation eine hohe Verantwortung zu, der sie in den vergangenen Jahren stets gerecht geworden seien. "Darauf hoffe ich jetzt wieder. Erste Anzeichen, dass in diesem Jahr Einmalzahlungen eine Rolle spielen könnten, deuten sich bereits an."

Laut IW-Experte Lesch ist dies noch kein Grund zur Entwarnung. Denn es gebe Anzeichen, dass sich die Erwartungen schon in Richtung hoher Inflation verfestigt hätten. Das würde bedeuten, dass die Gewerkschaften nicht mehr davon ausgehen könnten, dass es nur ein vorübergehendes Phänomen sei: "Wenn das so ist, dann werden wir einige Jahre Probleme mit einer solchen Lohn-Preis-Spirale bekommen."

Im Euroraum ist laut EZB-Direktorin Schnabel ein genseitiges Aufschaukeln von Löhnen und Preisen noch nicht abzusehen. Doch dürften die Währungshüter nicht erst abwarten, bis es soweit sei. Ökonom Andreas Busch von der Schweizer Bantleon Bank schätzt den wachsenden Teuerungsdruck als problematisch ein und rechnet für 2022 mit einer allenfalls geringen Entspannung. Bis zum Jahresende dürfte die Inflationsrate von aktuell 7,5 Prozent lediglich in Richtung 5,0 Prozent nachgeben. Das Zwei-Prozent-Ziel der EZB werde damit weiterhin um Längen überschritten – auch 2023 dürfte die Teuerung seiner Ansicht nach darüber liegen.

Als einen zentralen Preistreiber sieht der Experte den wachsenden Lohndruck: "Angesichts des 40-jährigen Rekordtiefs der Arbeitslosenquote ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Saläre deutlich schneller steigen." Angekurbelt werde die Lohndynamik dabei auch von den aktuell hohen Inflationsraten, die mehr und mehr Arbeitnehmer veranlassten, einen Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten zu fordern. Sein Fazit: "Die befürchtete Lohn-Preis-Spirale beginnt mithin Fahrt aufzunehmen." 

(Reuters)