Walter Weibel (73) aus Gelfingen LU entschied sich mit 65 Jahren noch für ein Theologiestudium, welches er 2013 erfolgreich mit dem Doktortitel abschloss. Seither arbeitet er ehrenamtlich als Altersseelsorger. In jungen Jahren doktorierte er bereits in Pädagogik, war danach als Sekundarlehrer tätig und bildete anschliessend selber Lehrer aus. Vor seiner Pensionierung war er Regionalsekretär der Nordwestschweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz.

Das Gespräch mit Walter Weibel ist Teil zwei der cash-Interviewserie zum Jahresende. 2016 befasst sich cash mit dem Thema "berufliche Quereinsteiger und Neuorientierung".

cash: Herr Weibel, wieso entschieden Sie sich mit 65 Jahren für ein Studium anstatt in Rente zu gehen?

Walter Weibel: Meine Funktionen während meiner Berufstätigkeit waren ziemlich anspruchsvoll und zeitintensiv. Ich merkte, dass ich mit 65 Jahren nicht plötzlich auf null fahren kann. Aber ich ging ja in Rente. Ich wollte noch etwas machen und meinen Lebenstraum erfüllen. Relativ schnell kam ich zum Schluss, dass es nochmals ein Studium sein muss.

Was kam für Sie in Frage?

Das zweite Studium musste etwas völlig Neues sein. Etwas, das sich nicht an das anlehnte, was ich zuvor gemacht hatte. Ungefähr zwei Jahre setzte ich mich damit auseinander, die passende Studienrichtung zu finden. Ich suchte etwas, was mich motiviert und nicht nur 'l’art pour l’art' ist. Ich wollte Neues lernen, das ich danach auch in einer besonderen Art und Weise umsetzen kann.

Wie gingen Sie bei der Studienwahl konkret vor?

Der Weg ging nur über Gespräche mit entsprechenden Fachleuten und meiner Frau, welche dann auch über das ganze Studium voll hinter mir stand. Der Druck vom ersten Studium war aber natürlich weg. Wenn das Theologiestudium nicht gelungen wäre, also wenn ich an den Prüfungen gescheitert wäre, dann hätte ich das Studium wohl nicht fortgesetzt.

Also gingen Sie unbeschwert ins Studium?

Meine Absicht war nicht, unbeschwert durch das Studium zu gehen. Ich sagte meinen Professorinnen und Professoren deutlich, dass ich keinen 'Seniorenrabatt'  will, sondern genau gleich wie die jungen Studierenden behandelt werden möchte und dass ich jede Seminararbeit sowie jede mündliche und schriftliche Prüfung mitmachen würde. Ich wusste jedoch nicht, dass ich nochmals eine Dissertation schreiben würde. Das war die grosse Überraschung für mich. Nach dem Lizenziat wollte ich eigentlich abschliessen. Meine Professorin in Judaistik, Frau Prof. Dr. Verena Lenzen, stachelte mich aber an, nochmals eine Dissertation zu schreiben.

Wie reagierten Sie darauf?

'Ich diesem Alter schreibe ich sicherlich keine zweite Dissertation mehr, kommt gar nicht in Frage.' Das war meine erste Reaktion. Ein halbes Jahr 'kämpften' wir miteinander. Ich unterbreitete ihr schliesslich einen Vorschlag einer Dissertation. Dieser war jedoch nicht für mich, sondern für einen jungen Mitstudenten gedacht. Sie brachte mich schliesslich dazu, die Arbeit selber zu schreiben. Meine Bedingung aber war, einen strikten Zeitplan einzuhalten, da ich in meinem Alter nicht mehr ewig lange daran schreiben wollte. So wurde Frau Prof. Lenzen für einen Rentner 'Doktormutter'.

Wie war das Verhältnis mit den anderen Studierenden?

Wir hatten ein wunderbares Verhältnis. Sie merkten, dass ich auch 'krampfte' für Seminararbeiten und vor mündlichen Prüfungen genau so aufgeregt war wie alle anderen auch. So haben wir uns dann während des Studiums gegenseitig unterstützt. Das war für mich sehr wertvoll. Eine glückliche Zeit!

War Ihnen schon vor dem Studium klar, was Sie danach damit machen wollten?

Nein. Ich wusste nur, dass ich nochmals ein Studium mit einem interessanten Thema machen wollte. Das Theologie-Studium passte zu mir, da es mich sehr interessierte und ich davon eigentlich noch nichts verstanden hatte. Etwas zu studieren, wo ich bereits ein grosses Vorwissen besass, interessierte mich nicht. Ich wollte etwas machen, wo ich wirklich von Grund auf Neues lernen konnte.

Sie schlossen das Studium relativ schnell ab.

Mein grosser Vorteil gegenüber anderen Studierenden war, dass ich Zeit und mit meiner Rente keine Geldsorgen hatte. Mein Studium teilte ich mir zeitlich ein. Jeden Tag gab ich mir eine genaue Arbeitszeit vor, arbeitete nie länger als bis acht Uhr abends. Das Wochenende setzte ich ganz bewusst nie für das Studium ein. Aber ich musste auch auf einiges verzichten. Meine Tätigkeiten in Kommissionen und Arbeitsgruppen und Hobbies gab ich auf, um mich voll auf das Studium konzentrieren zu können.

Wie war die Reaktion Ihres Umfelds darauf, dass Sie im Rentenalter nochmals ein Studium begannen?

Meine Kolleginnen und Kollegen sagten mir, ich sei ein 'verrückter Kerli', in meinem Alter das alles nochmals auf mich zu nehmen. Ich könne es doch einfacher haben nach der Pensionierung, ohne mich mit Prüfungen und Seminararbeiten durchschlagen zu müssen.

Wie reagierten Sie darauf?

Das brachte mich nicht von meinem Vorhaben ab. Noch einmal in diesem Alter von Grund auf etwas Neues zu lernen, mich mit etwas vertieft auseinandersetzen zu können und mit jungen Menschen intensiv zusammenzuarbeiten. Das war eine Chance, ja quasi ein Geschenk für mich.

Wollten Sie sich selber beweisen, dass Sie noch dazu fähig waren?

Nein, so etwas brauche ich überhaupt nicht. Während meiner langen Berufszeit konnte ich mein Wissen und Können einbringen. Es ging mir nicht darum, mir selber irgendetwas zu beweisen. Das wäre der falsche Ansatz gewesen, dann wäre ich mit meinem Studium sicher gescheitert.

Was war denn Ihre Motivation?

Neugierde auf Neues und die Freude, etwas von Grund auf erarbeiten zu können, um Zusammenhänge in ihrer Vielfalt besser zu erkennen.

Fällt es im Alter schwerer zu lernen?

Das Studium war viel anspruchsvoller als mein erstes Studium in Pädagogik in jüngeren Jahren. Ich hatte aber auch Vorteile. Zum Beispiel konnte ich meine alten Sprachkenntnisse in Latein und Griechisch wieder abrufen. Mein Wissen von früher war plötzlich wieder da. Es war eine unvorstellbare Freude für mich, Wörter plötzlich wieder zu erkennen, nachdem ich diese Sprachen über 40 Jahre nicht mehr gebraucht hatte. Der Motivationssprung für mich war dadurch gewaltig.

Hatten Sie auch gleichaltrige Mitstudierende?

Ich war damals wohl der Älteste in meiner Fakultät. Aber es gab solche, die ungefähr zehn Jahre jünger waren als ich. Unter den Älteren war ich insofern eine Ausnahme, als dass ich konsequent auf einen Studienabschluss hinarbeitete und alle Prüfungen machen wollte.

Würden Sie anderen Personen ebenfalls empfehlen, nach der Berufstätigkeit noch ein Studium anzufangen?

Viele Gleichaltrige fragten mich an, wie ich das Ganze angegangen bin und ob es auch etwas für sie wäre. Ich konnte ihnen nicht mit Ratschlägen helfen. Ich berichtete einfach über meine Beweggründe und wie ich vom Studium profitierte. Einige Kollegen gingen auch an die Universität, aber vor allem als Hörer und Hörerinnen, ohne Prüfungen zu machen.

Sie schlossen das Studium vor drei Jahren mit dem Doktortitel ab. Haben Sie nun die Nase voll von der Universität?

Überhaupt nicht. Ganz auf die Universität und aufs Lernen zu verzichten ginge für mich einfach nicht. Es wäre auch schade, so viel Lebenszeit einzusetzen und dann einfach aufzuhören.

Wie bilden Sie sich denn noch weiter?

Diesen Sommer ging ich zum Beispiel an ein vierwöchiges Weiterbildungsseminar nach Israel. Dort setzte ich mich intensiv mit dem Verhältnis Judentum-Christentum auseinander. Ich gehe auch noch regelmässig an Vorträge an der Universität, arbeite darüber hinaus in einer nationalen Kommission mit dem Thema Dialog Judentum-Christentum mit und werde auch für Vorträge angefragt.

Sie sind auch als Altersseelsorger tätig. Was ist hier der Reiz für Sie?

Die praktische Erfahrung erfüllt mich. Im Altersheim Chrüzmatt in Hitzkirch treffe ich ältere Männer und Frauen im Durchschnitt alle 14 Tage zu einem Einzelgespräch. Ich weiss nie, was mich dort erwartet. Ich halte in diesem Altersheim auch Gottesdienste. Es ist für mich eine dauernde Herausforderung, mit vielen beglückenden Begegnungen.

Und diese Arbeiten führen Sie unentgeltlich durch.

Die Tätigkeit in der Altersseelsorge mache ich bewusst ehrenamtlich. Ich bekam nochmals die Möglichkeit, ein Studium zu machen, deshalb will ich der Gesellschaft wieder etwas zurückgeben. Ich kann mit meinem Theologiestudium Seelsorger sein, für Menschen da sein, ihnen zuhören, sie zu verstehen suchen, ihnen zeigen, dass sie als ältere Menschen für unsere Gemeinschaft so wichtig sind.