Nachhaltigkeit hat in den Unternehmen in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Auch Ihre Erfahrung?

Kristina Rüter: Das begann vor über zwanzig Jahren und verlief parallel zu der zunehmenden Erkenntnis von Investoren, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Werte- sondern auch ein Risikothema ist. So richtig Fahrt nahm das Thema auf mit der Finanzkrise und wurde weiter verstärkt durch Ereignisse wie die brennende Ölplattform Deepwater Horizon 2010 und das Reaktorunglück in Fukushima 2011.

Sind Nachhaltigkeits-Ratings katastrophengetrieben?

Dafür ist die Bewegung viel zu breit und zu tief. Bei den Themen ESG (Umwelt, Soziales, gute Unternehmensführung) geht es ja nicht primär um die Vermeidung von Katastrophen, sondern um einen effizienten Ressourceneinsatz, um Risikomanagement, um Rendite.

Wer sind die Treiber: Behörden, Aktionäre, Kunden?

Da tragen alle Faktoren zum Fortschreiten bei. Gerade der Kapitalmarkt ist ein unglaublich starker Treiber bei börsenkotierten Firmen. Aber auch die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen fördert das Thema.

Inwiefern?

Wir erhalten zunehmend Feedback von Firmen, die unser Rating als Stärke-Schwäche-Analyse in ihre Strategie einbauen. Sie zeigt den Firmen auf: Wo sind Lücken, wie stehen wir zu den Peer Groups, zur Branche. Wir hören auch, dass die Firmen die Daten zum Messen ihrer Zielerreichung nutzen oder in ihre Kompensationssysteme einbauen, indem Nachhaltigkeitskriterien nicht nur für Nachhaltigkeitsverantwortliche, sondern auch für Geschäftsleitungen bonusrelevant werden.

Korreliert Nachhaltigkeit mit Rendite?

Es gibt langfristige Studien, welche die finanzielle Outperformance von Firmen mit hoher Nachhaltigkeitsleistung und entsprechend positivem Rating aufzeigen. Das sehen wir auch bei unseren Analysen seit 14 Jahren: Investments in Firmen, die in unserem Prime-Bereich figurieren, weisen über diesen Zeitraum kontinuierlich und akkumuliert eine höhere Rendite aus. Es geht also auch um Chancen, nicht nur um Risikoverminderung. Das interessiert Investoren natürlich ungemein.

Kristina Rüter ist Direktorin von ISS ESG. Die führende Nachhaltigkeitsagentur hat das erste Ranking für Nachhaltigkeit der grossen Schweizer Firmen im Auftrag der «Handelszeitung» erhoben.

Gibts regionale Unterschiede, wie Sie Nachhaltigkeit bewerten? Immerhin sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Ländern unterschiedlich.

Wir machen bei den Analysen grundsätzlich keine regionalen Unterschiede und bewerten Firmen aus Asien nicht anders als jene aus Europa. Es gibt also keine Kulanz, wenn ein Bergbauunternehmen in Indonesien giftige Aufbereitungsschlämme ins Meer leitet, nur weil dies dort legal wäre. Wir fragen vielmehr: Was sind die Anforderung an eine nachhaltige Entwicklung, weltweit? Best Practice führt schliesslich zu einer besseren Performance.

Präferieren Investoren bei ESG unterschiedliche Schwerpunkte? Frauenförderung ist ein wichtigeres Thema in Skandinavien.

Diese regionalen Unterschiede gibt es. In den USA sind die Themen Corporate Governance oder Diversity stark, in Frankreich haben Gewerkschaftsfreiheit und Mitsprache der Mitarbeiter eine hohe Bedeutung, in Japan Umweltthemen, in Deutschland Klimaschutz.

Grossfirmen seien nachhaltiger als KMU, heisst es. Weil sie Geld haben, um gefälligere Nachhaltigkeitsberichte zu publizieren. Richtig?

Einen Size Bias sehen wir über unser gesamtes Firmenspektrum, immerhin 6700 Firmen weltweit, nicht. 14 Prozent aller Unternehmen erreichen den Prime-Status, bei den Kleinfirmen sind es 12 Prozent. Bei den Besten gibts also kaum einen Unterschied. Wir bewerten auch nicht die Schönheit der Berichterstattung, sondern die Performance. Auch die Datenmenge führt nicht unbedingt zu einer guten Note; es zählt die Substanz.

Sie kennen die Nachhaltigkeitsberichte dieser Welt. Sind sie akkurat oder gehts um Greenwashing?

Die Qualität wird immer besser, weil immer mehr Stakeholder kritisch drauf schauen. Zudem werden sie häufiger von Dritten auditiert. Was uns wichtig ist, ist die Coverage – also der Geltungsbereich – der Informationen und Daten in den Berichten: Werden nur Leuchtturmprojekte gefällig dargestellt und nur jene Indikatoren genannt, bei denen man besonders stark ist? Oder wird umfassend berichtet, werden auch Schwachpunkte behandelt? Unsere Forderung ist: Realität muss abgebildet werden, das ist längst nicht immer der Fall. Oft fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit kontroversen Themen. Es gibt also Licht und Schatten, aber die Qualität des Reportings und auch die Nachhaltigkeitsleistung der Firmen werden kontinuierlich besser.

Dafür haben Sie Daten?

Ja, sie zeigen klar, dass die Nachhaltigkeitsperformance der Unternehmen steigt. Diesen Trend sehen wir in Industrieländern wie in Schwellenländern. Der einzige Unterschied ist, dass Firmen in Schwellenländern ungefähr acht Jahre hinter jenen in den entwickelten Ländern stehen. Aber der Trend ist weitgehend derselbe.

Sehen Sie Unterschiede zwischen börsenkotierten Firmen und Familienfirmen? Immerhin sind Börsenkotierte stärkerem Druck ausgesetzt.

Das ist so, bei Nicht-Börsenkotierten gibts weniger Druck und tiefere Offenlegungspflichten. Aber es gibt auch Treiber, die auf beide Firmen wirken, etwa die Kreditvergabe von Banken, die oft an Nachhaltigkeitskriterien gebunden sind. Zudem ist gerade bei kleineren Firmen die Mitarbeiterbindung ein grosses Thema. Wenn sich jemand für einen Arbeitgeber entscheidet, spielt die Nachhaltigkeit oft eine wichtige Rolle. Da müssen die Kleineren mithalten.

Gibt es Branchen, die chronisch schlecht abschneiden? Rüstungsfirmen?

Das Geschäftsmodell spielt beim Rating eine zentrale Rolle. Tabak, Waffen, Erdöl oder Kohle bewerten wir grundsätzlich nicht als einer nachhaltigen Entwicklung zuträglich. Diese Unternehmen haben schon mal einen Startnachteil. Diesen können sie mit Performance unter Umständen teilweise, aber nie vollständig, kompensieren. Die Einpreisung des Geschäftsmodells erlaubt auch eine Vergleichbarkeit von Unternehmensratings über Branchen hinweg – also ein deutlicher Forschritt gegenüber eines herkömmlichen Best-In-Class Ansatzes.

Wie gehts weiter mit der Bedeutung der Nachhaltigkeit?

Die Anforderungen daran, was zu berichten ist, werden steigen und sich durch freiwillige Standards und Regulierung konkretisieren. Die Trennung von Finanzrisiken auf der einen Seite und Umwelt- und Sozialrisiken auf der anderen Seite, wird sich zunehmend auflösen. Das macht Sinn, denn ESG-Themen, -Kriterien und -Leistungen sind finanziell bedeutsam, um Kunden und Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten, Bussen zu vermeiden, Umweltrisiken zu minimieren oder schnell auf neue Regulierungen reagieren zu können.

Dieses Interview erschien zuerst auf HZ unter dem Titel: Öko-Ranking: "Über die Zeit eine höhere Rendite"