"Alles ist so teuer geworden", klagt der 49-jährige Selcuk Gemici aus Istanbul. Ihm würden zurzeit sicher viele Menschen zustimmen, doch für den Mitarbeiter einer Autowerkstatt haben die rasant gestiegenen Lebensmittelpreise eine besondere Dimension: Er könne seine zwei Kinder nicht mehr angemessen ernähren, frische Lebensmittel kämen nur noch selten auf den Tisch, die Familie lebe von Nudeln, Bulgur und Bohnen, sagt Gemici. Pandemie, klimabedingte Ernteausfälle und zuletzt der Krieg in der Ukraine haben die Lebensmittelpreise in die Höhe schiessen lassen. In ganz armen Ländern drohen Hungersnöte, die Schwellenländer bringt die Inflation in eine Zwickmühle: Hilfsprogramme für die Bevölkerung könnten tiefe Löcher in die Haushalte reissen, doch ohne finanzielle Unterstützung drohen soziale Unruhen.

Schon kommen Erinnerungen an den Arabischen Frühling auf, bei dem steigende Kosten für Lebensmittel den Unmut der Bevölkerung in Ländern wie Tunesien und Algerien ab Ende 2010 mit anfachten. Auch jetzt sind es wieder Staaten Nordafrikas, in denen es nach Einschätzung von Experten wie Beata Javorcic von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zu Unruhen kommen könnte. "Die Ironie dieses Krieges ist, dass alle eine Krise in Russland erwarteten", sagt Javorcic mit Blick auf den Ukraine-Krieg. "Dabei sind es tatsächlich gerade die nordafrikanischen Länder, die wegen der hohen Lebensmittelpreise näher an einer Notlage sind."

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock wirft in diesem Zusammenhang Russland vor, einen "Korn-Krieg" zu führen. Russland versuche bewusst, den Ukraine-Krieg in der Welt, insbesondere in Afrika, auszuweiten, so die Grünen-Politikerin. Dass Russland die Häfen in der Ukraine blockiere und deshalb kein Getreide exportiert werden könne, sei kein Kollateralschaden des Krieges. "Wir dürfen nicht naiv sein", warnt die Ministerin. Vielmehr bereite Russland damit den Nährboden, den internationalen Zusammenhalt bewusst zu schwächen.

Inflationsrate in der Türkei bei 70 Prozent

Ähnlich wie der Familienvater in Istanbul haben weite Teile der Bevölkerung in Schwellenländern inzwischen Mühe, mit den Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln Schritt zu halten. Für Millionen Menschen sind zumindest einige Lebensmittel zum Luxusgut geworden, so auch für Um Ibrahim, die in Kairo vor einer Moschee Kopftücher verkauft. "Alle Preise sind gestiegen - für Kleidung, Gemüse, Geflügel, Eier", sagt die 60-jährige Witwe. "Was soll ich bloss machen?" In Ägypten betrug die Inflation im April über 13 Prozent. Das ist ein Wert, der nicht weit entfernt ist vom Doppelten der deutschen Inflationsrate von 7,4 Prozent, aber weniger als ein Fünftel der Teuerung in der Türkei von 70 Prozent.

Lebensmittel machen in vielen ärmeren Ländern den grössten Einzelposten in dem so genannten Warenkorb aus, mit dem die Inflationsrate bestimmt wird. So sind es für Länder mit geringer Wirtschaftskraft laut dem Internationalen Währungsfonds im Schnitt rund 40 Prozent, während in Deutschland Ausgaben für Essen und Trinken mit rund zehn Prozent erst an vierter Stelle nach den Kosten für Wohnen, Verkehr und Freizeit kommen. In Indien und Pakistan machen Lebensmittel sogar rund die Hälfte im Inflations-Warenkorb aus. In Deutschland stiegen die Nahrungsmittelpreise im April im Schnitt um 8,6 Prozent und damit so stark wie seit März 2008 nicht mehr.

Indien gehört zu den Ländern, die wegen der Lieferprobleme durch den Ukraine-Krieg die Notbremse ziehen. Der bisher zweitgrösste Weizen-Exporteur der Welt verhängte am Wochenende ein sofortiges Ausfuhrverbot für Weizen. Indonesien stoppte Palmöl-Exporte bereits im April, um die Preisexplosion auf dem Heimatmarkt unter Kontrolle zu bekommen.

"Es gibt keine einfachen Lösungen"

Um die Auswirkungen der in die Höhe schiessenden Lebensmittelpreise für die Bevölkerung zu mildern, haben einige Länder Massnahmen ergriffen. So hat die Türkei schon im Dezember den Mindestlohn um 50 Prozent angehoben - auch unter dem Eindruck des Währungsverfalls und einer allgemein hohen Inflation.

"Es gibt keine einfachen Lösungen", sagt Polina Kurdyavko, die bei der Londoner Finanzfirma BlueBay Asset Management die Schwellenländer-Anlagen verantwortet. Die Regierungen könnten entweder den Verbrauchern mit Subventionen unter die Arme greifen oder die Preise weiter steigen lassen und damit Gefahr laufen, dass es zu sozialen Unruhen kommt.

Der Risiko- und Strategieberatung Verisk Maplecroft zufolge hätten Schwellenländer zwar noch die Härten der Pandemie abfedern können. Inzwischen fiele es den Regierungen aber zunehmend schwer, die hohen Sozialausgaben zu bewältigen, über die grosse Teile der Bevölkerung ihren bisherigen Lebensstandard halten können. Die britische Beratungsfirma sieht solche Probleme unter anderem auf Ägypten, Brasilien, Argentinien, Tunesien und Pakistan zukommen. 

(Reuters)