Russland konzentriert seine Kampfhandlungen in der Ukraine wieder auf den Osten. In Kiew und bei seinen Verbündeten wächst derweil die Erkenntnis, dass das Zeitfenster zur Verhinderung der Teilung der Nation - und eines langen Abnutzungskrieges - sich rasch schliesst.
Der Rückzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew ist eine Niederlage für den Kreml. Doch um den Vormarsch inzwischen verstärkter Einheiten in Donezk und Luhansk aufzuhalten, müsste der Kampf auf offenen Schlachtfeldern ausgetragen werden. Dafür braucht es mehr, als die leichten Panzer- und Flugabwehrraketen, welche die USA und Europa bisher geliefert haben.
"Flugzeuge, Land-zu-Schiff-Raketen, gepanzerte Fahrzeuge, schwere Luftabwehrsysteme", sagte der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba am Donnerstag vor einem Treffen mit Nato-Vertretern in Brüssel auf die Frage, um was er gebeten habe. Die kommende Schlacht um den Osten werde an den Zweiten Weltkrieg erinnern, mit gross angelegten Operationen und Tausenden von Panzern und Artilleriegeschützen.
“Entweder, Sie helfen uns jetzt - und ich spreche von Tagen, nicht von Wochen - oder Ihre Hilfe kommt zu spät und viele Menschen sterben”, sagte Kuleba. Er zweifle nicht, dass die Ukraine die benötigten Waffen bekommen werde. Die Frage sei jedoch, ob sie rechtzeitig ankämen.
Ein langer Krieg droht
Sechs Wochen nach dem Einmarsch Russlands tritt der Krieg in eine neue Phase. Der Ukraine bleiben möglicherweise nur wenige Wochen, die nötigen Waffen zu beschaffen. So lange wird Russland wohl brauchen, um seine Einheiten für einen Grossangriff im Osten neu zu formieren. Der Kreml zielt anscheinend mittlerweile auf die verbliebenen Gebiete im Donbas ab, die noch in ukrainischer Hand sind.
Ein langer Krieg droht. Die Frage, ob er schnell beendet werden kann oder sich zu einem jahrelangen Konflikt wie in Syrien entwickelt, wird inzwischen als zentral angesehen.
“Die Bündnispartner sollten mehr tun und sind bereit, mehr Ausrüstung zur Verfügung zu stellen, und sie erkennen die Dringlichkeit”, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach dem Treffen am Donnerstag. “Dieser Krieg kann Wochen, aber auch Monate und möglicherweise auch Jahre dauern.” Da die Sanktionen der Alliierten bisher keine erkennbare Wirkung auf Putins Invasionspläne zeigen, richtet sich das Augenmerk zunehmend auf Waffen, die das Kräfteverhältnis vor Ort angleichen könnten.
Die anfängliche Zurückhaltung lässt nach
Der britische Staatssekretär im Verteidigungsministerium James Heappey nannte die Situation “die nächste Phase des Konflikts”. Zuvor hatte er ukrainischen Offiziere gezeigt, welche Ausrüstung Grossbritannien womöglich liefern könnte, darunter Raketensysteme und gepanzerte Fahrzeuge. Die Nato weigert sich nach wie vor, Truppen in die Ukraine zu entsenden oder ihr Flugzeuge zur Verfügung zu stellen, um keine Ausweitung des Krieges zu riskieren. Auch eine Flugverbotszone will sie nicht durchsetzen.
Doch die anfängliche Zurückhaltung, aus denselben Gründen keine schweren Waffen zu liefern, lässt nach, wenn auch - aus Sicht der Ukraine - zu langsam. Kuleba hob Deutschland hervor und begrüsste Berlins Wende, überhaupt Waffen zu liefern. Er kritisierte allerdings das Tempo: “Berlin hat Zeit, Kiew hat keine”, sagte er.
Die Lieferung 100 deutscher Marder-Schützenpanzer scheitert womöglich am Zustand der Fahrzeuge. Grossbritannien hat angekündigt, Starstreak-Flugabwehrsystem zu liefern. Australien will gepanzerte Bushmaster-Mannschaftswagen an die Ukraine senden. Die USA erklärten, dass sie Ländern, die über Panzer sowjetischer Bauart verfügen, mit denen das ukrainische Militär vertraut ist, bei deren Verbringung nach Kiew helfen würden.
Panzer und Drohnen
Die Tschechische Republik liefert wohl T-72-Panzer sowie gepanzerte Fahrzeugen. Washington schickt der Ukraine wohl ausserdem bewaffnete Switchblade-Drohnen sowie weitere Javelin-Panzerabwehrraketen für die Ostfront.
Die Mengen an gelieferten schweren Waffen sind vorerst freilich gering und für manche braucht es monatelange Ausbildung. Daher bleibt unklar, ob es genügend Waffen rechtzeitig an die Donbas-Front schaffen, um dem erwarteten russischen Angriff standzuhalten.
Um erfolgreich zu sein, braucht die Ukraine nicht nur Panzer, sondern auch gute Aufklärung, mehr moderne, leichte Waffen, die sie bereits erfolgreich eingesetzt hat, und ausreichend Bodentruppen, um eine Einkesselung ihrer Streitkräfte an der Front zu verhindern, schrieb Mark Hertling, ein ehemaliger Kommandeur der US-Armee in Europa, auf Twitter. “Der Donbas wird eine Abnutzungsschlacht”, sagte er.
(Bloomberg)