Karl Meier hat vor einem Jahr für 10'000 Franken Aktien von einem Unternehmen gekauft. Damals dachte er noch, dass dieses Investment ein guter Entscheid gewesen sei. Er erwartete eine gute Rendite. Nach einem Jahr befindet sich das Investment deutlich im Minus. Karl erscheint dieser Umstand aber nicht problematisch, solche Schwächephasen müsse man halt aussitzen, denkt er sich.

Der Entscheid von Karl, so das fiktive Beispiel, ist per se nicht falsch. Er befolgt mit dem Festhalten seine "Buy and Hold"-Strategie, die sich als passive Analagestrategie bewährt hat. Denn stetige Käufe und Verkäufe von Wertschriften und die damit verbundenen Trading-Gebühren entfallen auf diese Weise. Ganz gemäss der Börsenwahrheit: "Hin und her macht Taschen leer".

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Alles gut? Nein, diese Strategie funktioniert nur, wenn auch die Aktien die entsprechende Qualität aufweisen. Verliert der Titel über Jahre an Wert, spricht dies in der Rückschau gegen die Investition. Denn eine andere Börsenwahrheit besagt: "Der Markt hat immer recht". 

Nun, die allermeisten Anleger machen eines richtig: Sie überprüfen ihr Portfolio regelmässig - ob jährlich, vierteljährlich oder monatlich. Sie beurteilen dabei, ob eine Aktie die gewünschte Rendite erreicht hat und nehmen unter Umständen Änderungen im Portfolio vor. Aber woher kommen dann die ungewollten Depotleichen?

Verlustaversion führt zu riskanteren Entscheiden

Zahlreiche Studien belegen an den Finanzmärkten den sogenannten Dispositionseffekt: Wenn der Aktienkurs nach dem Kauf gesunken und ein Verlust eingetreten ist, neigen Anleger dazu, zu lange mit dem Verkauf zu warten. Umgekehrt tendieren Anleger dazu, nach einem Kursanstieg über den Einstandskurs die gewinnbringende Aktie zu früh zu verkaufen.

Dieses Phänomen lässt sich durch Verlustaversion erklären: Vor jeder Entscheidung, etwa zu einem Aktienkauf oder -verkauf, setzen Anleger einen Referenzpunkt, auf den sie mögliche Gewinne oder Verluste beziehen. Bei Verkaufsentscheidungen nach einem Aktieninvestment ist dies meist der Einstandskurs.

Menschen messen dabei Verlusten eine höhere Bedeutung zu als Gewinnen - im Schnitt wird ein Verlust mehr als zweimal so stark empfunden wie ein Gewinn. Die Problematik des menschlichen Verhaltens reicht sogar noch weiter. So steigt die negative Nutzenkurve bei zunehmendem Verlust weniger stark an. Deutsch und deutlich: Ob man 1400 oder 1500 Franken in den Sand setzt, macht gefühlt einen weitaus geringeren Unterschied als ob man nichts oder 100 Franken verliert. 

Dies hat zwei Konsequenzen: Hat ein Anleger schon einen Verlust auf einer Aktienposition, dann werden zusätzliche Verluste gefühlt immer weniger stark empfunden. Zweitens kommt einer einprozentigen Verringerung eines Verlustes eine grössere Bedeutung zu als einem einprozentigen Gewinn. Dieses Verhaltensmuster führt dazu, dass Anleger bestehende Verliereraktien nicht rechtzeitig verkaufen, sondern mit der Hoffnung auf eine Erholung weiter behalten - alternative Investments mit einer erwarteten positiven Rendite werden übergangen. Im schlechtesten Fall wird noch hinzugekauft und in ein fallendes Messer gegriffen.

Lösung: Eigenes Verhalten austricksen

Es ist paradox: Die Verlustaversion führt daher dazu, dass Anleger bei Verliereraktien risikofreudiger sind als bei ihren Gewinnern. Dies ist auch wissenschaftlich belegt. Anleger verkaufen eher Gewinner- als Verliereraktien - der Fehler kostet 4,4 Prozent Rendite. Der einzige Ausweg aus diesem Verhaltensmuster besteht darin, die Kauf- und Verkaufsentscheide möglichst objektiv und ohne Emotionen anzugehen.

Die beste Möglichkeit, dem eigenen Verhalten ein Schnippchen zu schlagen, besteht darin, den Einstandspreis, die bisherige Rendite und den historischen Kursverlauf des Titels auszublenden. Eine ausgedruckte Portfolioliste mit dem aktuellen Positionswert genügt dazu. 

Folgende Frage müssen sich Anleger im nächsten Schritt stellen: Welche Erwartungshaltung besteht gegenüber den Titeln? Dabei können Kennzahlen, Unternehmensnachrichten und Analystenberichte hinzugezogen werden. Im Endeffekt sollte der Anleger eine Vorstellung über die Rendite haben, die seine Portfoliopositionen zukünftig bieten sollen.

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Alleiniger Blick auf die Zukunft

Diese Betrachtung bietet gleich zwei grosse Vorteile: Eine Aktie wird unabhängig der bisherigen Rendite komplett neutral beurteilt. Einzig die zukünftige Erwartung zählt. Es ist aufgrund dieser Betrachtungsweise sogar gut möglich, dass sogenannte "Leichen" aus guten Gründen im Portfolio behalten werden. Ebenso werden die sogenannten Gewinner-Aktien nicht zu früh verkauft.

Zweitens können so auch die Opportunitätskosten jeder anderen Option berücksichtigt werden. Unter Opportunitätskosten versteht man hier den entgangenen Ertrag, der bei einem alternativen Aktienkauf möglich gewesen wäre.  Denn neben den bestehenden Positionen, verfügen Anleger meist über Aktien, die sie seit geraumer Zeit beobachten und interessant finden. Ist die erwartete Rendite einer Aktie im Portfolio kleiner als beim schon lange beobachteten Titel, liegt nur eine rationale Entscheidung auf der Hand. Position verkaufen und den neuen Titel aufnehmen.

Für Karl bedeutet dies, dass er Verluste nicht aussitzen, sondern sein Portfolio in regelmässigen Abständen überprüfen sollte. Das wichtigste dabei: Die Vergangenheit ausblenden, Fehler eingestehen, neu beurteilen und schlussendlich ohne Emotionen handeln. Dem endlosen Halten von Verlierer-Aktien und Depotleichen wird damit ein Riegel geschoben.

Dieser cash-Artikel erschien zuerst am 14.Januar 2021.