Einmal im Jahr lädt der mächtige Industrieverband BDI zu seinem "Tag der Deutschen Industrie" nach Berlin. Dort können Mitglieder normalerweise den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern lauschen und mit ihnen diskutieren. Doch dieses Mal ist vieles anders: Platz ist nur für einige Hundert Industrievertreter in der "Verti Music Hall" - mitten im Corona-Hotspotbezirk Friedrichshain-Kreuzberg.

Wo normalerweise Bands wie die kalifornische Hip-Hop-Gruppe Cypress Hill oder angesagte Deutsch-Rapper wie Capital Bra auftreten, geht es dieses Mal um den Strukturwandel in der Industrie, den die Coronavirus-Pandemie erschwert. BDI-Präsident Dieter Kempf spricht sogar von einer "existenziellen Bedrohung" - um dann doch Mut zu machen.

"Wir haben hoffentlich die Talsohle durchschritten", gibt er sich nach den nie dagewesenen Einbrüchen bei Exporten, Produktion und Aufträgen im Frühjahr zuversichtlich. Auf den ersten Blick ist die Lage der Industrie tatsächlich nicht mehr so schlecht: Sie konnte sich in den vergangenen Monaten merklich erholen. "Sie hat sich deutlich stabilisiert und ist auf dem Weg nach oben", sagt auch Ifo-Konjunkturexperte Klaus Wohlrabe.

US-Wahlen bereiten Sorge

So füllten sich die Auftragsbücher im August bereits den vierten Monat in Folge. Die Exporterwartungen der Industrie kletterten im September auf den höchsten Wert seit fast zwei Jahren, wie das Münchner Ifo-Institut bei seiner monatlichen Umfrage herausfand. Die Betriebe profitieren davon, dass sie vor allem Industrie- und weniger Konsumgüter ins Ausland verkaufen. "Deren Nachfrage steigt durch den Aufschwung der Industrie bei wichtigen Handelspartnern", so Wohlrabe.

Allerdings ist noch längst nicht ausgemacht, dass der Aufwärtstrend anhält. Die Risiken sind auch abseits von Corona gross. Sie reichen von einer möglichen Hängepartie nach den US-Wahlen und neuen Handelskriegen bis hin zu einem harten Brexit. Mit grossem Bangen schaut die Industrie derzeit über den Atlantik, wo am 3. November ein neuer US-Präsident gewählt wird.

Der republikanische Amtsinhaber Donald Trump, der mehrere Handelskonflikte vom Zaun gebrochen und immer wieder mit Strafzöllen auf deutsche Autos gedroht hat, trifft dabei auf seinen Rivalen Joe Biden von den Demokraten. Selbst bei einem Machtwechsel stellen sich Exporteure darauf ein, dass das Verhältnis zum wichtigsten deutschen Absatzmarkt schwierig bleiben dürfte. "Wir sollten uns davon verabschieden, alle Probleme mit den USA in die Schuhe von Trump zu schieben", warnt der Präsident des Aussenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. "Wir haben es eher mit einem langfristigen Trend zu tun, dass Amerika mehr auf sich schaut."

Und noch etwas bereitet den Unternehmen Sorge mit Blick auf die USA. Sie fürchten Chaos, etwa an den Finanzmärkten, sollte Trump im Falle einer Niederlage seinen Posten nicht freiwillig räumen. Der Republikaner schürte zuletzt Zweifel an einer friedlichen Machtübergabe. Er erklärte, dass die Wahl möglicherweise erst vom Obersten Gericht entschieden werde. "Ein klarer Wahlausgang ist einer Hängepartie vorzuziehen", sagt BDI-Präsident Kempf. "Unternehmen sind auf Planungssicherheit angewiesen."

Harter Brexit wird immer wahrscheinlicher

Auch ein harter Brexit könnte der deutschen Industrie zusetzen, gehört Grossbritannien doch zu ihren Top-Kunden. Die Zeit für eine Einigung auf ein Freihandelsabkommen ist knapp: Weil die Parlamente Zeit für die Ratifizierung brauchen, muss es eigentlich noch im Oktober deutliche Fortschritte geben. Das Vereinigte Königreich trat Ende Januar aus der EU aus. Bis Jahresende gilt noch eine Übergangsphase, in der EU-Regeln angewendet und die künftigen Beziehungen geklärt werden sollen.

Gelingt hier keine Einigung, droht doch noch ein ungeregelter Brexit. "Durch den Binnenmarktaustritt Grossbritanniens werden im Handel mit der EU zahlreiche Barrieren wieder entstehen, die lange beseitigt waren", sagt DZ-Bank-Ökonomin Monika Boven. "Ob mit oder ohne Freihandelsabkommen – mit einem spürbaren Wohlstandsverlust für Grossbritannien ist zu rechnen."

Das werden auch die deutschen Exporteure zu spüren bekommen: Allein 2019 setzten sie 79 Milliarden Euro im Vereinigten Königreich um. Seit dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 sind die deutschen Exporte dorthin kontinuierlich gefallen.

Vorzeigebranche steht vor schwierigen Zeiten

Und dann gibt es noch hausgemachte Probleme. Ausgerechnet der Vorzeigebranche - der deutschen Autoindustrie - stehen schwierige Jahre bevor. Erst verspielte sie ihren guten Ruf durch Skandale um manipulierte Diesel-Abgastests, dann liess sie sich vom kalifornischen Konkurrenten Tesla in Sachen Elektroautos vorführen.

"Mittelfristig bleibt die Umstellung auf die Elektroautomobilität der grösste Belastungsfaktor für die deutsche Industrie", warnt der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel. "Der Wegfall des Verbrennungsmotors stellt das deutsche metallverarbeitende Gewerbe vor die grösste Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Ganze Wertschöpfungsketten werden vernichtet."

Denn ihren Erfolg verdanken Volkswagen, BMW, Daimler, Audi und Porsche nicht zuletzt ihren Motoren. Die aber gibt es in Elektroautos nicht mehr. Angesichts der fehlenden Batteriezellfertigung sind die deutschen Autobauer auf Importe angewiesen, vor allem aus Asien. "Dieser strukturelle Wandel bleibt noch lange Zeit ein übergeordneter Belastungsfaktor für die Auftragseingänge", sagt Gitzel voraus. Auch wenn der "Tag der Deutschen Industrie" nächstes Jahr wieder grösser und ohne Corona-Auflagen gefeiert werden kann - einige Probleme dürften bleiben. 

(Reuters)