Traditionell betonen Bundesregierung und Bundestag die Unabhängigkeit sowohl von Europäischer Zentralbank und Bundesbank als auch des Verfassungsgerichts und halten sich mit Äusserungen zurück. Aber auch eine Woche nach dem Urteil ist in Berlin hinter den Kulissen das Entsetzen über das Karlsruher Urteil spürbar. Innerhalb von drei Monaten müssen Regierung und Bundestag die Vorgaben aus Karlsruhe umsetzten - und sie fühlen sich dabei nach Angaben eines Abgeordneten wie Bombenentschärfer. "Denn das Verfassungsgericht hat einen Sprengsatz am Euro und an der EU angebracht", sagt er, will namentlich nicht genannt werden.

Immerhin hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble offen ausgesprochen, dass er eine Gefahr für den Euro sehe. Der CSU-Europapolitiker Markus Ferber wiederum spricht von "Dramatik", weil Karlsruhe beanspruche, in einer europäischen Angelegenheit besser Bescheid zu wissen als der Europäische Gerichtshof (EuGH). Hintergrund ist, dass Karlsruhe zwar nicht die EZB-Anleihenkäufe der vergangenen Jahre an sich beanstandet, aber eine Erklärung über deren Verhältnismässigkeit fordert - das stellt die Frage nach der Unabhängigkeit der EZB. Zudem unterstellt das Bundesverfassungsgericht dem EuGH inhaltliche Mängel bei der Prüfung der EZB-Käufe - und wirft dem Luxemburger Gericht damit ungewöhnlich offen den Fehdehandschuh hin.

«Heikle Lage»

Die Bundesregierung hielt sich mit Bewertungen zunächst zurück. Finanzminister Olaf Scholz stellte fest, dass Karlsruhe die EZB-Anleihenkäufe an sich nicht infrage gestellt habe. Aber wie ernst der juristische Machtkampf zwischen nationaler und europäischer Ebene ist, machte Kanzlerin Angela Merkel am Montag im CDU-Präsidium deutlich. Nach Teilnehmerangaben sprach die sonst betont zurückhaltende CDU-Politikerin von einem "Urteil von grosser Bedeutung" und einer "heiklen" Lage. Zudem liess sie unverhohlen Sympathie für die EU-Ebene erkennen - soweit sie sich dabei als Kanzlerin überhaupt aus der Deckung wagen darf.

Es sei verständlich, dass die EU-Kommission nun deutlich mache, dass nationale Gerichte den EuGH nicht infrage stellen könnten, betonte Merkel. Ausdrücklich spielte sie zudem auf den politischen Kollateralschaden des Karlsruher Urteils an. Denn auch andere nationale Gerichte könnten sich nun herausgefordert fühlen, EuGH-Entscheidungen infrage zu stellen. Zwar nannte Merkel aus diplomatischen Gründen bewusst keine Länder. Aber bereits am Wochenende hatte die polnische Regierung das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts begrüsst. Denn Polen befindet sich mit der EU-Kommission ebenso wie Ungarn im Rechtsstreit über eine umstrittene nationale Justiz- und Medienpolitik und will sich von Brüssel nichts sagen lassen.

Drohendes Vertragsverletzungsverfahren

Wie brisant das Urteil auch in Brüssel gesehen wird, zeigt die schnelle Reaktion der EU-Kommission. Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen brachte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ins Spiel. Auch die Vertreter der EU-Institutionen warnen unverhohlen, dass mit der Autorität des EuGH der Zusammenhalt der gesamten EU - und des Euro - kippen könnte. EU-Diplomaten halten es deshalb für wahrscheinlich, dass die EU-Kommission in den kommenden Tagen tatsächlich ein Verfahren eröffnen wird. Damit droht der Bundesregierung ausgerechnet vor der am 1. Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein Gesichtsverlust.

Deshalb wird hinter den Kulissen hektisch nach einer Deeskalation gesucht. Regierung und Koalitionsfraktionen schwenken weisse Flaggen Richtung Brüssel und Luxemburg - nur CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt stellt sich offen hinter das Verfassungsgericht. Man werde der Kommission natürlich alle Fragen beantworten, betonte dagegen Merkel im CDU-Präsidium. "Den grundsätzlichen Auslegungsvorrang des EuGH zweifelt nach unserer Analyse des Urteils das Bundesverfassungsgericht nicht an", wagte sich zudem ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag in der Auslegung des Karlsruher Urteils weit vor. Ein Sprecher des Finanzministeriums verwies auf die im Grundgesetz festgeschriebene "Integrationsverantwortung" der Bundesregierung in der EU.

Bei den europafreundlichen Fraktionen im Bundestag ist die Haltung ähnlich. "Der EuGH entscheidet letztverbindlich über Europarechte", sagte die stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschefin Katja Leikert zu Reuters. Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU hält sie für wenig zielführend. "Ich gehe davon aus, dass die EU Kommission nicht leichtfertig über ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren entscheiden wird, das absehbar mit weitreichenden politischen und rechtlichen Folgewirkungen verbunden wäre", warnte auch SPD-Fraktionsvize Achim Post. Er plädiert für einen Dialog zwischen den Institutionen.

Richtungsentscheidung

Die Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner wiederum fordert den Bundestag auf, klarzustellen, dass der EuGH die Letztentscheidung über europäisches Recht habe. Nun prüfen Bundestags-Juristen, ob zur Deeskalation die von Karlsruhe verlangte Klarstellung der EZB zur Verhältnismässigkeit der Anleihenkäufe nicht über die nationale Bundesbank eingeholt werden kann - obwohl sich dann die Frage nach deren Unabhängigkeit stellt.

Brantner sieht aber auch die Bundesregierung und die EU-Partner am Zuge. Denn schon in der Finanzkrise sei die EZB vor allem wegen der politischen Handlungsunfähigkeit immer stärker zu den Anleihenkäufen getrieben worden, um die Eurozone zu schützen. "Jetzt muss die Politik ausreichend Geld für die Rettung der angeschlagenen Euro-Länder und das europäische Wiederaufbauprogramm zur Verfügung stellen, um die EZB zu entlasten", fordert die Grünen-Politikerin.

FDP-Chef Christian Lindner erwartet durch das Urteil letztlich "mittel- und langfristig" eine Richtungsentscheidung über die weitere Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. "Ich denke nicht, dass wir am Ende politische Fragen über Gerichte oder Zentralbanken auslagern können", sagte auch CDU-Fraktionsvize Leikert. 

(Reuters)