Immer mehr Wirtschaftsdaten deuten auf einen Mix aus stark steigenden Preisen und wirtschaftlicher Flaute hin - Stagflation nennen Ökonomen diese Mischung aus stagnierender Konjunktur und hoher Inflation. Das gab es in Deutschland zuletzt in den 1970er Jahren. Damals drosselte das Ölkartell Opec die Produktion, wodurch sich der Ölpreis binnen zwei Jahren verdoppelte, was zu wirtschaftlichem Stillstand mit steigender Arbeitslosigkeit bei stark steigender Inflation führte.

Steigende Energie- und Materialkosten

"Gegenwärtig sprechen die Materialengpässe, eine nachlassende Nachfrage aus China sowie eine neue Corona-Welle dafür, dass die deutsche Wirtschaft im vierten Quartal kaum noch wachsen wird", beschreibt Commerzbank-ChefökonomJörg Krämer die aktuelle Lage. Gleichzeitig dürften die steigenden Energie- und Materialkosten die Inflation in den kommenden Monaten weiter anheizen. Selbst die Bundesbank schliesst nicht aus, dass bei der Teuerungsrate am Jahresende eine Fünf vor dem Komma stehen könnte. "Insofern kann man mit Blick auf das vierte Quartal von Stagflation sprechen", sagt Krämer.

Wieder in Mode gekommen ist das Kunstwort durch die aktuelle Entwicklung der Verbraucherpreise: Diese zogen im September mit 4,1 Prozent so stark an wie seit 1993 nicht mehr, weil sich insbesondere Energie mit der weltweiten Konjunkturerholung nach der Corona-Pandemie und der seit Jahresbeginn geltenden CO2-Bepreisung stark verteuert hat. Dazu gesellt sich eine mehr und mehr schwächelnde Industrie, die unter einem akuten Engpass an wichtigen Vorprodukten wie Halbleitern leidet. Etwa 80 Prozent der Industriebetriebe klagen über fehlende Materialien, wie das Ifo-Institut bei seiner jüngsten Unternehmensumfrage feststellte. Die Folge: Die Industrieaufträge brachen im August um fast acht Prozent ein, die Produktion um fast fünf Prozent.

«Ein toxisches Gebräu» - Preise steigen und Produktion sinkt

Besonders hart getroffen ist die Autobranche, die ihre Erzeugung im August sogar um 17,5 Prozent drosseln musste, da vor allem die unersetzlichen Mikrochips fehlen. Der Autobauer Opel schliesst deshalb sein Werk in Eisenach mindestens bis Jahresende. Das alles deutet darauf hin, dass der Aufschwung der deutschen Wirtschaft nach der Corona-Krise im gerade begonnenen Herbstquartal zum Stillstand gekommen sein dürfte.

LBBW-Ökonom Jens-Oliver Niklasch hält die Mischung aus steigenden Preisen und sinkender Produktion für "ein toxisches Gebräu, das schon leicht nach Stagflation riecht". Auch ING-ChefökonomCarsten Brzeski sieht Anzeichen für eine Stagflation, hält aber Vergleiche mit den 70er Jahren ansonsten für unangebracht. "Die gegenwärtige Situation ist bei weitem nicht mit der der siebziger Jahre vergleichbar", sagt er. So seien sowohl Industrie als auch Verbraucher mittlerweile weit weniger abhängig von Energie als vor rund 50 Jahren. Vergessen werden sollte auch nicht, dass derzeit die meisten Industrieländer bereits ihr Vor-Pandemie-Niveau erreicht haben oder bald erreichen werden. "Und die Lage am Arbeitsmarkt hat sich verbessert und nicht verschlechtert", sagt Brzeski. Tatsächlich sagen führende Wirtschaftsinstitute trotz aller Probleme eine sinkende Arbeitslosigkeit voraus.

«Keinen Anhaltspunkt für eine Lohn-Preis-Spirale»

Druck auf die Löhne wegen der anziehenden Inflation erwartet das gewerkschaftsnahe IMK-Institut derweil nicht. "Ich sehe bisher keinen Anhaltspunkt für eine Lohn-Preis-Spirale", betont der wissenschaftliche IMK-Direktor Sebastian Dullien. Denn die Gewerkschafts-Forderungen nach einem Aufschlag von fünf bis sechs Prozent seien nicht höher als 2019 und relativierten sich. "Damals stiegen am Ende gesamtwirtschaftlich die Löhne um knapp drei Prozent." Das entspreche der Zielinflation der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent plus einem Prozent Produktivitätswachstum. "Ich sehe zwar Nachholeffekte von der Corona-Krise 2020 - in der Summe ist das aber nicht preistreibend." ING-Experte Brzeski warnt auch: "Die siebziger Jahre machten klar, dass eine sich immer weiter beschleunigende Lohn-Preis-Spirale - wenn sie zu spät erkannt wird - am Ende nur durch hartes Treten der Zinsbremse gestoppt werden kann."

Sorgen bereitet die Lage in der grössten Volkswirtschaft der Währungsunion auch der Europäischen Zentralbank (EZB). Sie sitzt in der Klemme. Angesichts der in der gesamten Euro-Zone stark steigenden Preise müsste sie sich eigentlich von ihrer Nullzinspolitik verabschieden und ihr Corona-Krisenprogramm abschalten. Steigen aber die Zinsen, könnte das die wirtschaftlich anfälligen Länder wie Italien treffen - deren Regierungen dann Milliarden mehr in den Schuldendienst stecken müssten. Geld, dass dann für Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung fehlen würde. Die Währungshüter setzen darauf, dass der Preisdruck im kommenden Jahr ebebbt. "Die Inflation dürfte weitgehend binnen eines Jahres wieder unter zwei Prozent fallen", sagt EZB-Ratsmitglied Francois Villeroy de Galhau.

Aufschwung mit moderaten Preissteigerungen

Viele Ökonomen erwarten zudem, dass die Engpässe bei wichtigen Vorprodukten in den kommenden Monaten peu a peu überwunden werden. "Die gute Nachricht ist derweil, dass die leer gefegten Lager der Unternehmen und die liegengebliebenen Aufträge für ein kräftiges Anziehen der Industrieproduktion im kommenden Jahr spricht – unter der Voraussetzung, dass dann genügend Vorprodukte und Rohstoffe verfügbar sind", sagt der Chefökonom der VP Bank, Thomas Gitzel.

Dann könnten gleich beide Zutaten für die Stagflation im kommenden Jahr fehlen. Auf Stagnation und Inflation würde dann ein Aufschwung mit moderaten Preissteigerungen folgen.

(Reuters)