Die Europäische Zentralbank (EZB) feilt zu Beginn des neuen Jahrzehnts an ihrer Strategie in der Geldpolitik. Seit Jahren jagt sie ohne Erfolg dem selbst gesteckten Ziel einer Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent hinterher. Da der letzte Strategiecheck bereits 17 Jahre zurückliegt, scheint die Zeit reif für eine solche "Generationenaufgabe", wie Notenbank-Experte Friedrich Heinemann vom ZEW-Institut in Mannheim es formuliert.

Angesichts der zuletzt offen zutage getretenen Differenzen im EZB-Rat über die Ausrichtung der Geldpolitik werde dies "die erste grosse Moderationsaufgabe" für die neue Notenbank-Chefin Christine Lagarde. Der Startschuss fällt im Januar - vor Ende 2020 soll die Überprüfung abgeschlossen sein.

Für Notenbanken ist das Inflationsziel die alles entscheidende Grösse. Denn ihre Aufgabe ist es, für stabile Preise zu sorgen. Was dies zahlenmässig genau bedeutet, wird über das Inflationsziel festgelegt. Eine Notenbank versucht mit ihren Mitteln die tatsächliche Preisentwicklung so zu beeinflussen, dass diese ihrem Ziel entspricht.

Vertrauen zentral

Zentral ist die Überlegung, dass die Verbraucher den Währungshütern auch zutrauen, dies zu erreichen und ihr Kaufverhalten entsprechend ausrichten. Dabei dürfen Preise weder dauerhaft fallen, was die Konjunktur abwürgen würde, noch darf die Inflation ins Kraut schiessen. Um die zwei Prozent galt daher bisher als Stabilitätsmarke und damit als "Goldstandard". Deshalb kommt dem Inflationsziel eine so grosse Bedeutung zu. Änderungen an der wichtigsten Richtgrösse einer Notenbank sind daher stets grosse Umwälzungen.

EZB-Präsidentin Lagarde dürfte dabei auch auf ihre Notenbank-Kollegen in Washington schielen. Diese nehmen bereits seit einiger Zeit ihre Vorgehensweise unter die Lupe. Auch die Bilanz der Fed bei ihrem Inflationsziel von zwei Prozent fiel zuletzt eher bescheiden aus.

In Zeiten der Digitalisierung und den damit verbundenen Vergleichsmöglichkeiten im Netz sowie der fortschreitenden Globalisierung fast aller Wirtschaftszweige deutet vieles auf ein anhaltend gedämpftes Inflationsniveau hin. "Es gibt schon seit längerem Anzeichen dafür, dass die Inflation im Trend zurückgeht", sagt der Wirtschaftsforscher Torsten Schmidt vom Essener Institut RWI. "Die Hochinflationszeiten sind erst einmal vorbei." Dem wollen die Währungshüter auf beiden Seiten des Atlantiks Rechnung tragen.

Anschein der Kapitulation vermeiden

Lagarde will beim Strategiecheck auch das EU-Parlament konsultieren und die Forschung sowie Vertreter der Zivilgesellschaft einbeziehen. Das Manöver gilt als ausgesprochen heikel. "Eine Zentralbank muss extrem sparsam mit solchen Überprüfungen sein. Sie muss auch den Anschein vermeiden, als würde sie kapitulieren, wenn sie das Ziel nicht erreicht", so ZEW-Experte Heinemann.

Für seinen Kollegen Schmidt vom RWI ist ein Punkt zentral: "Das Glaubwürdigkeitsthema ist entscheidend." Denn letztendlich lebe die Geldpolitik davon: "Die EZB hat angesichts der Inflationserwartungen die Sorge, dass sich langsam eine gewisse Skepsis am Markt breitmacht, ob sie ihr Ziel mittelfristig erreichen kann."

Die Euro-Notenbank verfehlt ihr Stabilitätsziel bereits seit Frühjahr 2013 und erwartet aktuell auch für 2021 nur eine Teuerung von 1,4 Prozent. Aus einem Börsenbarometer lässt sich ablesen, dass Investoren selbst bis zum Ende des Jahrzehnts nicht annähernd damit rechnen, dass die Zentralbank eine Punktlandung schaffen wird.

Tiefers Inflationsziel denkbar?

Auch die Währungshüter treibt das Verfehlen des Stabilitätsziel um. Dabei sind einige bereits mit Ideen vorgeprescht. So sprach sich Österreichs Notenbank-Chef Robert Holzmann für ein tieferes Inflationsziel aus. Forsch schlug er einen wesentlich niedrigeren Wert vor - und zwar 1,5 Prozent. Andere Währungshüter wie der Notenbank-Chef der Niederlande, Klaas Knot, oder Estlands Notenbank-Gouverneur Madis Müller halten mehr Flexibilität für sinnvoll. Sie können sich ein Band um das Inflationsziel vorstellen.

Notenbank-Direktor Benoit Coeure sprach sich im Dezember vor seinem Ausscheiden aus dem Führungsgremium für eine Marke von zwei Prozent aus, die mit einem Toleranzband versehen werden sollte. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hatte sich eher skeptisch gezeigt, das bisherige Ziel grundlegend infrage zu stellen.

Schwierige Diskussionen

Aus Sicht von Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert geht es bei der Strategieüberprüfung vor allem darum, Kritiker und Befürworter des bisherigen lockeren Kurses der Notenbank wieder zu versöhnen. Das im September beschlossene grosse Stützungspaket für die Wirtschaft, zu dem eine weitere Zinssenkung und die Neuauflage der Anleihenkäufe gehörte, war intern umstritten.

Mehrere Notenbanker übten danach öffentlich Kritik an Teilen der Beschlüsse. EZB-Präsidentin Lagarde bezeichnete es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Wogen zu glätten und wieder für mehr Einigkeit im EZB-Rat zu sorgen. RWI-Experte Schmidt erwartet schwierige Diskussionen. "Ein Strategiewechsel ist immer längerfristig angelegt. Und entsprechend hartnäckiger werden die Diskussionen sein, wenn es bereits ausgeprägte unterschiedliche Auffassungen gibt."

Einigkeit gefragt

Commerzbank-Experte Schubert zufolge muss eine Lösung gefunden werden, mit der alle leben können. Er glaubt deshalb nicht, dass sich extreme Positionen durchsetzen werden: "Der EZB-Rat könnte sich darauf verständigen, dass Preisstabilität nicht mehr bei 'nahe, aber unter zwei Prozent' gegeben ist, sondern schlicht bei zwei Prozent." Uwe Burkert, Chefvolkswirt der LBBW, kann einem Toleranzband viel abgewinnen. "Ein Inflationsband um eine Zielmarke halte ich für eine sinnvolle Lösung, mit der jeder gut leben könnte." Damit wäre Handlungsspielraum gegeben. Die Währungshüter müssten dann nicht mehr unmittelbar reagieren, sollte die Inflationsrate im Euro-Raum etwas von der Zielrate abweichen.

Auch bei ihrer letzten grossen Strategieüberprüfung im Jahr 2003 hatte die EZB keinen Radikalschwenk vollzogen, sondern ihr mittelfristiges Preisstabilitätsziel von 1998 präzisiert. Bis dahin lautete es auf unter zwei Prozent - angepasst wurde es schliesslich auf "unter, aber nahe zwei Prozent".

(Reuters)