cash.ch: Stehen wir in der Coronaviruskrise vor einer zweiten Welle?

Michael Nawrath: In vielen Ländern weltweit entwickeln sich die Fallzahlen exponentiell. In der Schweiz oder Deutschland haben wir nur eine Verschnaufpause. Aber beispielsweise Ferienrückkehrer werden das Virus wieder verbreiten. Die zweite Welle kommt, allerdings werden die Regierungen einen zweiten Lockdown mit aller Macht verhindern wollen. Im Gegensatz zu China können wir hier das Virus nicht mit diktatorischen Massnahmen eindämmen.

Wie wirkt sich eine zweite Coronawelle auf die beiden grossen Schweizer Pharmakonzerne Roche und Novartis aus?

Roche ist mit der Diagnostik und Therapeutika an der Coronabekämpfung beteiligt – nicht mit Impfstoffen, das war nie das Geschäft von Roche. Aber die Roche-Antikörpertests sind die sichersten der Welt. Und von Roche werden wir in der nächsten Coronawelle bei der Diagnostik, aber auch mit einem neuen Therapeutikum noch viel hören. Novartis hat weder in der Diagnostik noch mit Impfstoffen etwas gegen Corona vorzuweisen. Beide Sparten wurden in den vergangenen Jahren verkauft. Auch bei Therapeutika ist von Novartis nichts zu erwarten.

Hätte Novartis die vor einigen Jahren veräusserte Impfstoffsparte nicht besser behalten? 

Dieses Geschäft hatte nie die kritische Grösse erreicht und fast immer einen negativen EBIT ausgewiesen. Aus Sicht des Aktionärs war es die richtige Entscheidung von Novartis, sich 2014/15 von der Impfstoffsparte zu trennen. Ein fokussiertes Geschäftsmodell mit Gewinnmaximierung stand über allem. Heute in der aktuellen Coronakrise hätte Novartis allerdings das machen können, was AstraZeneca sehr erfolgreich betreibt: Sich für die Impfstoffentwicklung mit einer Universität, in diesem Fall Oxford, und Produzenten auf der ganzen Welt zusammenzutun.

Die Aktienmärkte interessieren sich enorm für Impfstoffentwickler wie AstraZeneca oder über die Moderna-Zusammenarbeit z.B. auch für Lonza. Bleibt die Impfstoffentwicklung ein wesentlicher Treiber von Aktienkursen?

Immer, wenn etwas Neues über einen Impfstoff bekannt wird, wird dies vom Markt goutiert. Es ist aber kein Multimilliardengeschäft.

Stellt dies nicht die bisherige die Welt der Pharmaanleger in Frage?

Impfstoffe sind ein Allgemeingut für die Gesellschaft. Manche entwickeln Corona-Impfstoffe zum Selbstkostenpreis, wie es AstraZeneca oder Johnson & Johnson bereits angekündigt haben. Pfizer will dagegen mit Covid-19-Impfstoffen Profit machen, aber wir sprechen hier von höchstens 20 Dollar für eine Impfstoffdosis - und nicht von 100'000 oder 200'000 Dollar wie bei einem Krebsmedikament für einen einzelnen Patienten. Der Investor wird akzeptieren oder akzeptieren müssen oder es auch immer mehr erkennen wollen, dass Pharmaunternehmen auch etwas für die Gesellschaft tun und tun wollen und nicht nur auf Profit achten. Man schaut nicht mehr auf endloses Wachstum und endlose Margenexpansion. Ich erinnere an das Thema ESG – Environmental Social Governance.

Aber die Zahlen von Roche und Novartis, die beide vergangene Woche vorgestellt worden sind, haben ja zu deutlichen Kursrückgängen geführt.

Ja, noch wird zu stark auf die Zahlen geschaut. Auch ich hätte nicht erwartet, dass die Roche-Zahlen so negativ ausfallen würden. Es wird aber ein hier ein Umdenken geben: In der zweiten Welle, und die ist wirklich zu mehr als 50 Prozent sicher, werden Gesundheitsaktien wieder gefragt sein.

Was erwarten sie in Sachen Therapeutikum von Roche?

Wir warten im Moment jeden Tag auf eine Nachricht, ob das Autoimmun-Medikament Actemra, das es seit gut zehn Jahren gibt, wenigstens bei den schweren Covid-19-Fällen die Symptomatik lindern kann. Eine Studie mit über 400 Patienten wird demnächst publiziert. Es ist aber auch möglich, dass Roche Therapeutika gegen Covid-19 entwickelt, mit der das Virus unter Kontrolle gehalten werden kann. Es gibt derzeit nur ein direktes antivirales Medikament, und das ist Remdesivir von Gilead Sciences. Dessen Wirkungsspektrum ist hingegen eher als moderat einzustufen. Bei Aids beispielsweise gibt es auch keinen Impfstoff, aber Medikamente, die das Virus in Schach halten. Diese lassen sich schneller entwickeln und in der Produktion hochfahren als es bei Impfstoffen der Fall ist. Und in der zweiten Welle wird man Therapeutika brauchen.

Spricht dies vor allem für ein Investment in Roche?

Roche hat schon 2019 bei den Investoren Vertrauen geschaffen, weil neue Medikamente rechtzeitig auf den Markt kamen und alte, deren Patente abliefen, mehr als kompensieren konnten – und das auch in dem unverhofft schlecht gelaufenen zweiten Quartal. Novartis hingegen war mit Bestechungsskandalen und Datenmanipulationen in den Schlagzeilen, auch wenn das in der Vergangenheit liegt. Aber es gibt einen negativen Stempel und wiegt im Einklang mit kaum nennenswerten Massnahmen zur Coronabekämpfung. Der Kurs von Roche wird sich indessen schnell wieder erholen. Der Genussschein kann vielleicht sogar bis auf 300 Franken zurückgehen, dürfte dann aber schön kontinuierlich in Richtung der 400 Franken Marke steigen. Dies bietet eine super Einstiegsgelegenheit.

Michael Nawrath ist Leiter der Analyse für Pharma- und Biotechunternehmen bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Er praktizierte als Mediziner fünf Jahre in Berlin und sieben Jahre an Universitätsspital Zürich. Er war auch in der klinisch orientierten Forschung tätig.