Werden wir denn tatsächlich alle ärmer?
Ein beliebtes und zugleich gefürchtetes Thema im europäischen Wirtschaftsdiskurs ist die Inflation. Seit den schmerzlichen Erfahrungen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Angst vor der Geldentwertung in das kollektive Gedächtnis der Europäer eingebrannt und hält sich dort offensichtlich hartnäckig. Gerade jetzt in Zeiten der üppigen Versorgung der Märkte mit Zentralbankliquidität glauben Verfechter der geldmengentheoretischen Lehre eine deutliche Bedrohung durch die Inflation am Horizont ausmachen zu können. Was dem Ökonomen hierbei missfällt ist der inflationäre Gebrauch des Begriffs „Inflation“. Denn wie definiert sich Inflation? Wie kommt sie zustande?
Die gefühlte Inflation wird nicht gemessen
Inflation ist definiert als der allgemeine, anhaltende Anstieg des Güterpreisniveaus. Dies hat ein Absinken der Kaufkraft zur Folge. In anderen Worten: Inflation macht alle ärmer. Wichtige Voraussetzung ist also, dass die Preise für sehr viele Güterklassen ansteigen. Im Umkehrschluss heisst das eben auch, dass ein isolierter Anstieg der Energiepreise solange keine Inflation darstellt, als sich die Kosten für diesen wichtigen Produktionsfaktor nicht auf andere Preise überwälzen lässt. Vor diesem Hintergrund konnte man auch im Jahr 2008, als der Preis für ein Fass Rohöl der Sorte Brent auf über 140 US Dollar anstieg, nicht von Inflation sprechen, denn der Rest des Warenkorbs der Konsumenten zeigte sich relativ unbeeindruckt von diesem Anstieg. In der Kernrate der Inflation werden daher auch die Preise für Lebensmittel und Energie ausgeschlossen, da diese in besonderem Masse von Schwankungen betroffen sind.
Nicht zuletzt deshalb kann die „gefühlte“ Inflation der Konsumenten von der offiziell gemessenen Inflationsrate abweichen. Ein Beispiel aus der Schweiz: Die Krankenkassenprämien fliessen nicht in die offizielle Berechnung der allgemeinen Teuerungsrate ein. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung von Preisveränderungen für Produkte des täglichen Bedarfs höher als diejenige für dauerhafte Konsumgüter. In diesem Zusammenhang ist an die Klagen über den „Teuro“ zu erinnern, die von den offiziellen Preisstatistiken so nicht gerechtfertigt wurden.
Preisblasen machen nicht alle ärmer
Klar abzugrenzen von dem Begriff der Inflation ist ein anderes Phänomen, das zwar durchaus durch die extrem lockere Geldpolitik befruchtet wird, aber leider allzu oft mit Inflation verwechselt wird: Spekulative Preisveränderungen an den Finanz- oder auch Immobilienmärkten. Es ist offensichtlich, dass hierdurch nicht alle ärmer werden, sondern dass sich im Gegenteil die Besitzer der jeweiligen Vermögenswerte reicher schätzen können. Zumindest solange keine Blase platzt.
Blasenbildung bei Vermögenswerten kann auch bei gleichzeitiger Verlangsamung der realwirtschaftlichen Dynamik entstehen. Insofern bedarf es zur Vermeidung solcher Blasen auch anderer wirtschaftspolitischer Mittel als zur Inflationsbekämpfung durch die Notenbanken. Inflation hingegen entsteht primär dann, wenn in einer Volkswirtschaft dauerhaft mehr Waren und Dienstleistungen nachgefragt werden, als diese Volkswirtschaft mit ihren Arbeitnehmern zu produzieren vermag. Sie ist ein Überhitzungsphänomen. Wir erachten die «Gefahr» eines Wirtschaftsbooms in Europa, das unter dem Zeichen der Austerität steht, aber auch in anderen Wirtschaftsregionen dieser Welt, selbst in der längeren Frist für überaus gering.
Geldmenge ist nicht gleich Kreditangebot
Tatsächlich hat sich die Zentralbankgeldmenge über die vergangenen Jahre deutlich ausgeweitet. In der Eurozone stieg diese Geldbasis von 800 Milliarden Euro im Januar 2007 auf ein Zwischenhoch von 1766 Milliarden im September 2012 und sank dann allerdings bis April 2013 auf ein Niveau von 1400 Milliarden. Dennoch eine starke Ausweitung. Betrachtet man allerdings die Entwicklung des breiten Geldmengenaggregats M3, so verhält sich diese genau gegenläufig. Wuchs sie im Jahr 2007 noch mit etwa 12% zum Vorjahr, so liegt diese Wachstumsrate mittlerweile bei schmalen 2.5%. Darüber hinaus befindet sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes auf historisch tiefem Niveau. Bei starker Inflation hingegen stiege diese an: Da das Geld ständig entwertet wird, will es niemand lange behalten – und die Inflation «füttert» sich dadurch selbst.
Wie kann es sein, dass die Geldmengenaggregate so stark divergieren? Die Notenbanken alleine können kein Geld produzieren, sondern sie brauchen „Komplizenschaft“ in Form der Geschäftsbanken, welche die Zentralbankgeldmenge an die Realwirtschaft in Form von Krediten weiter kanalisieren. Und genau dieser Aufgabe kommen zumindest die Geschäftsbanken der Eurozone nur in sehr geringem Masse nach.
Die Kreditvergabe an Unternehmen schrumpft gar seit circa anderthalb Jahren (siehe Grafik). Der Bankensektor steckt in einer Konsolidierungsphase. Unter dem Druck zunehmender Regulierung und der Notwendigkeit, die Kapitaldecken zu stärken, scheuen die Banken vor der Kreditvergabe zurück. Sie haben stattdessen ihre Einlagen bei der Zentralbank enorm erhöht. Insbesondere in den Peripheriestaaten geschieht die Angebotsrestriktion der Kredite über den Preis, d.h. die Risikoaufschläge beim Kreditzins sind teilweise beträchtlich.
Umfragen der Europäischen Zentralbank ergeben allerdings auch, dass die Kreditnachfrage in der gesamten Eurozone mager ist. Hierfür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind die Unternehmensbilanzen gesund genug, dass Investitionen aus dem Cash Flow finanziert werden können. Zum anderen führt der Konjunkturpessimismus seitens der Unternehmen, aber in vielen Ländern auch seitens der Konsumenten, zu vorsichtigem Ausgabe- und Investitionsverhalten. Somit ist der Transmissionsmechanismus teils strukturell teils konjunkturell ausser Kraft gesetzt und es kann kein Inflationsdruck entstehen. Deshalb vertrauen wir mehr auf die Daten zur Kreditvergabe, um die Aktionen der Notenbanken zu antizipieren, als auf die inflationären Inflationswarnungen.