Währungshüter haben sich ein Jahrzehnt lang auf die "Forward Guidance" verlassen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde selbst erklärte in ihrer Pressekonferenz am Donnerstag das zumindest vorläufige Ende dieser Praxis, nachdem sie und ihre Ratskollegen die Zinssätze um 50 Basispunkte erhöht hatten, obwohl sie die Marktbeobachter auf nur 25 Punkte vorbereitet hatten.

“Indem wir keinerlei Forward Guidance anbieten, sind wir viel flexibler”, sagte Lagarde.

Das Kommunikationsinstrument war bereits in Frage gestellt worden, als die Federal Reserve ihren Leitzins im Juni um 75 Basispunkte angehoben hatte, obwohl der Vorsitzende Jerome Powell eine solche Anhebung zuvor scheinbar ausgeschlossen hatte.

Powell und Lagarde hatten ihre Leitlinien vor der Sitzung mit Vorbehalten versehen und gesagt, dass sie letztlich von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen würden. Dennoch könnte die Tatsache, dass beide bereit waren, die Orientierungshilfen über Bord zu werfen, eine grössere Volatilität an den Finanzmärkten auslösen, wenn Anleger nun aufmerksamer auf neu eingehende Daten reagieren.

Frage der Glaubwürdigkeit

In dem Kurswechsel zeigt sich auch ein Versuch der Währungshüter, monatelange Untätigkeit während des Inflationsanstiegs wettzumachen. Eine schnellere Rückkehr zu den sogenannten neutralen Zinssätzen - die die Teuerung nicht anheizen - wird nun als unerlässlich angesehen, um die aus dem Ruder laufende Inflation zu zügeln.

“Die Zinserhöhung sowie mögliche weitere Erhöhungen zielen darauf ab, die Inflationserwartungen zu senken und den beschädigten Ruf und die Glaubwürdigkeit der EZB als Inflationsbekämpferin wiederherzustellen”, schrieb Carsten Brzeski, Global Head of Macro bei der ING, am Donnerstag. “Die heutige Entscheidung zeigt, dass die EZB mehr um diese Glaubwürdigkeit als um ihre Vorhersehbarkeit besorgt ist.”

Mark Carney und seine Kollegen von der Bank of Canada haben sich vor mehr als einem Jahrzehnt für spezifische geldpolitische Leitlinien eingesetzt, als der damalige Gouverneur nach zusätzlichen Konjunkturinstrumenten suchte.

Vor dem Hintergrund der schleppenden Erholung nach der weltweiten Finanzkrise und der Tatsache, dass die Zinssätze bereits nahe Null lagen, verpflichtete sich die Bank of Canada, die Zinsen 15 Monate lang nicht zu erhöhen. Im Jahr 2011 folgte der Fed-Vorsitzende Ben Bernanke diesem Beispiel, und die Forward Guidance wurde zu einem weiteren Werkzeug im Kasten der Zentralbanken.

Einstimmigkeit angestrebt

Doch damit ist jetzt Schluss. Reihenweise werfen Notenbanker gerade erst ausgegebene Leinlinien über Bord, während sie verzweifelt versuchen, die Inflation zu bändigen. Die Bank of Canada selbst hat letzte Woche Beobachter überrascht, indem sie die Zinssätze um einen ganzen Prozentpunkt anhob.

Die EZB erklärte nun “den willkommenen Tod der sehr spezifischen Forward Guidance”, sagte Nick Kounis, Ökonom bei ABN Amro. Die Währungshüter stellen in ihren geldpolitischen Beschlüssen explizit fest, dass sie nun “zu einem Ansatz übergehen, bei dem Zinsbeschlüsse von Sitzung zu Sitzung gefasst werden”.

Der Schritt der EZB kam für die grosse Mehrheit der Ökonomen, die eine Anhebung um einen Viertel-Prozentpunkt vorhergesagt hatten, und für Investoren, die vor der Entscheidung denselben Betrag eingepreist hatten, überraschend.

Die meisten hatten mit einer geringeren Erhöhung gerechnet, obwohl mit der Angelegenheit vertraute Personen am Dienstag gegenüber Bloomberg und anderen Medien erklärten, dass die Notenbanker bei der Sitzung über eine Erhöhung um 50 Basispunkte diskutieren würden.

«Überall» tot

Zuvor hatte Lagarde einen Viertelpunkt als “Absicht” bezeichnet, gleichzeitig aber betont, dass noch keine Entscheidung getroffen worden sei. Ihr belgischer Kollege Pierre Wunsch, normalerweise ein Falke, bezeichnete dies jedoch als “beschlossene Sache” - und auch andere hatten dies hinter vorgehaltener Hand angedeutet.

Die Idee der Forward Guidance ist, Anleger dafür einzuspannen, die gewünschten Effekte der Geldpolitik im Markt zu verstärken. In der Praxis führte sie jedoch oft dazu, dass die Geldpolitik dem Schicksal ausgeliefert ist, wenn sich die Situation ändert. Zuletzt in Form deutlich stärkerer Inflationstendenzen.

Die Schweizerische Nationalbank ging sogar so weit, sich damit zu brüsten, dass Forward Guidance nicht ihre Aufgabe sei, als sie die Märkte letzten Monat mit einer Erhöhung um 50 Basispunkte überraschte.

Die Entscheidung der EZB “zeigt einmal mehr, wie sinnlos die Forward Guidance der Zentralbanken derzeit ist”, schrieb Jim Reid, Stratege bei der Deutschen Bank, in einer Mitteilung an Kunden. “Forward Guidance ist so gut wie überall tot.”

(Bloomberg/cash)