Das Programm, das Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag vorgestellt hat, wird höchstwahrscheinlich per Verfassungsbeschwerde in Deutschland angegriffen werden - wie jedes einzelne seiner Vorgänger. Da diese Verfahren immer komplizierter wurden, dürfte das neue Instrument, das Zinserhöhungen erleichtern und Marktspekulationen über die öffentlichen Finanzen Italiens eindämmen soll, mehr juristische Hürden zu überwinden haben als jede geldpolitische Entscheidung seit der Gründung des Euro.

Die wichtigste Vorgabe für die Notenbanker ist, dass sie sich an ihr Mandat halten müssen, für Preisstabilität in der Eurozone zu sorgen. Von wirtschaftlichen Fragen oder gar der Finanzierung von Staatshaushalten dürfen sie sich nicht treiben lassen. Das könnte etwa gewährleistet werden, indem der Einsatz des Instruments an Auflagen für die begünstigten Länder geknüpft wird.

Minenfeld

“Die Spreads einzelner Mitgliedsstaaten zu steuern ist ein Minenfeld”, sagt Christoph Ohler, Rechtsprofessor an der Universität Jena in Deutschland.

Am Anfang muss laut Ohler eine saubere Analyse zur Verhältnismässigkeit der Massnahme stehen. Dabei muss die EZB sowohl die aktuelle Lage als auch die Aussichten für die nächsten zwei Jahre berücksichtigen und Kosten und Nutzen abwägen - einschliesslich möglicher negativer Auswirkungen auf die Fiskalpolitik der Staaten. Das wäre eine Grundlage, um das Programm vor Gericht erfolgreich zu verteidigen, so Ohler.

Die Entscheidung, ob und wie das neue Instrument den Härtetest bestehen kann, liegt bei der Chefjuristin der EZB, Chiara Zilioli, eine ehemalige Fulbright-Stipendiatin mit Harvard-Abschluss und einem Doktortitel vom European University Institute in Florenz. Lagardes eigener Hintergrund als Anwältin könnte zudem hilfreich sein.

Unter den potenziellen Klägern ist Markus Kerber, ein Berliner Finanzprofessor, der bereits gegen frühere Programme der EZB geklagt hat und sich schon jetzt auf die neue Attacke vorbereitet. Sollte es wirklich unbegrenzte EZB-Anleihekäufe einzelner Länder geben, müsse Deutschland erwägen, aus dem Euro auszusteigen, so Kerber.

Fast alle Klagen gescheitert

Bisher sind freilich fast alle Klagen gescheitert; ein Verfahren gegen das Pandemieprogramm der Zentralbank ist noch anhängig.

Dem juristischen Abgrund am nächsten kam die EZB mit ihrem Plan zur quantitativen Lockerung (QE) aus dem Jahr 2015. In ihrem Urteil vom Mai 2020 verboten die Verfassungsrichter der Bundesbank, sich an dem Programm zu beteiligen, es sei denn, die EZB erkläre es ausreichend - was schliesslich auch geschah. Rechtswissenschaftler nannten die Entscheidung eine “Kriegserklärung” gegen die Architektur der Europäischen Union. Das Urteil löste einen Konflikt mit der Europäischen Kommission aus, der am Ende aber beigelegt wurde.

Angesichts Deutschlands zentraler Rolle in Europa wäre Bundesbankpräsident Joachim Nagels Unterstützung enorm wichtig, auch um eine Konfrontation zu vermeiden, wie sie 2013 zwischen seinem Vorgänger Jens Weidmann und dem ehemaligen EZB-Direktor Jörg Asmussen entbrannte. Beide haben damals in dem Verfahren in Karlsruhe gegensätzliche Positionen vertreten.

Nagel hat bereits darauf hingewiesen, dass jedwedes Instrument “allenfalls in Ausnahmesituationen und unter eng gesteckten Voraussetzungen” zu rechtfertigen ist. Helfen könnte etwa die Einbindung der Europäischen Kommission oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus in die Entscheidung, ob begünstigte Länder ihre Auflagen erfüllen.

Quadratur des Kreises

Die Aufgabe der EZB-Juristen gleicht einer Quadratur des Kreises: Das Instrument muss scheinbar unbegrenzte Feuerkraft haben, gleichzeitig aber klare Grenzen. Es soll die Finanzmärkte einerseits zähmen, sie andererseits aber nicht daran hindern, Mitgliedsstaaten zur Haushaltsdisziplin anzuhalten.

Eine Möglichkeit wäre, sich am Outright Monetary Transactions-Programm aus dem Jahr 2012 zu orientieren. Der Plan, der auf das Versprechen des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi folgte, zu tun “whatever it takes”, um den Euro zu retten, kommt dem Charakter des neuen Instruments am nächsten und hatte sowohl vor deutschen als auch vor dem höchsten EU-Gericht Bestand.

“OMT ist an klare Voraussetzungen gebunden”, sagte Nagel am 4. Juli. “Das ist aus rechtlicher Sicht wichtig.”

Der EZB helfen könnte der Generationswechsel am Bundesverfassungsgericht, sagt Alexander Thiele, Rechtsprofessor an der Berliner BSP Hochschule für Management und Recht. 

Andreas Vosskuhle, der frühere Gerichtspräsident, ist vor zwei Jahren ausgeschieden. Er war Vorsitzender des zweiten Senats, der für Verfahren zum EU-Recht zuständig ist und galt neben Peter Huber als einer der sehr EZB-kritischen Richter. Huber wiederum geht zum Ende des Jahres, bei zwei weiteren läuft die Amtszeit ebenfalls bald ab.

“Das ist das Ende einer Ära”, so Thiele.

Trotzdem könnte es Jahre dauern, bis sich die EZB sicher sein kann, dass ihr neues Instrument auf festem Boden stehe, sagt Armin Steinbach, Professor für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der HEC in Paris, der zuvor im deutschen Finanzministerium tätig war.

“Die Rechtsunsicherheit wird wie ein Damoklesschwert über der EZB schweben”, sagt er. “Das kann die EZB in ihrer Arbeit beeinträchtigen, weil sie nicht zu 100% absehen kann, ob das Programm hält. Wenn Finanzmärkte das Gefühl haben, dass es rechtlich keinen Bestand haben wird, wird es seine erhoffte Wirkung nicht entfalten.”

(Bloomberg/cash)