Zäsur bei der Europäischen Zentralbank: Die EZB stemmt sich bei ihrer ersten Zinserhöhung seit elf Jahren mit einem unerwartet kräftigen Schritt gegen die immer weiter ausufernde Inflation. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den Leitzins gleich um einen halben Prozentpunkt auf 0,50 Prozent heraufzusetzen. Auch der Einlagensatz wurde in gleichem Umfang angehoben - und zwar auf 0,00 Prozent. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parken.

Die Zinsanhebung fiel damit doppelt so stark aus wie Lagarde & Co noch unlängst in Aussicht gestellt hatten. Mit dem Schritt leiten sie eine umfassende Wende in ihrer Geldpolitik ein. Letztmalig hatten die Euro-Wächter im Juli 2011 die Zinsen angehoben.

Weitere Zinsschritte in Aussicht gestellt

"Der EZB-Rat kam zu dem Urteil, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein grösserer erster Schritt angemessen ist als auf seiner vorangegangenen Sitzung signalisiert", erläuterte Lagarde. Sie stellte zudem weitere Zinsschritte in Aussicht: "Auf unseren nächsten Zinssitzungen wird eine weitere Normalisierung der Zinsen angemessen sein."

Durch das Vorziehen des Ausstiegs aus den Negativzinsen könnten die Währungshüter zudem dazu übergehen, dass Zinsbeschlüsse nun von Sitzung zu Sitzung gefasst würden. "Wir werden von Monat zu Monat vorgehen und Schritt für Schritt", sagte Lagarde. Der künftige Pfad werde von der Datenlage abhängen. "Was im September passiert, hängt davon ab, welche Daten wir für September haben." Die EZB befinde sich auf einem Normalisierungspfad, um ihr mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen.

"Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem grossen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat", kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. "Aber das kann nur ein Anfang sein." Der Euro-Raum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem brauche eine Serie grosser Schritte.

Nach Einschätzung des Chefvolkswirts der DekaBank, Ulrich Kater, ist mit diesem Einstieg in eine straffere Geldpolitik das Zeitalter der Null- und Negativzinsen vorbei: "Das monetäre Schlaraffenland hat geschlossen." DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben mahnte die Notenbanker zu "wohldosierten" Schritten. Die Inflation sei zum grossen Teil importiert. "Daher muss nicht nur die EZB reagieren."

Nachzügler EZB

Die Inflation im Euro-Raum war im Juni angetrieben von den hochschiessenden Energiepreisen im Zuge des Ukraine-Kriegs auf ein neues Rekordniveau von 8,6 Prozent geklettert. Die Teuerung ist bereits seit Monaten auf dem Vormarsch und die EZB war kritisiert worden, sie habe die Entwicklung zu spät erkannt.

Unter den grossen Notenbanken zählt sie zu den Nachzüglern. Seit Juli 2021 haben laut dem Internationalen Währungsfonds mehr als 70 Notenbanken ihre Leitzinsen erhöht. Manche sind zum Teil sehr aggressiv gegen den Inflationsanstieg vorgegangen. Die US-Notenbank erhöhte im Juni ihre Leitzinsen sogar um 0,75 Prozent - das war der grösste Zinsschritt seit 1994.

Die Wirtschaftsaktivität schwäche sich ab, sagte Lagarde. Der Ausblick auf das zweite Halbjahr und darüber hinaus sei eingetrübt. "Russlands ungerechtfertigte Aggression gegenüber der Ukraine ist eine anhaltende Wachstumsbremse", sagte sie. Doch werde zumindest der Tourismus-Sektor die Konjunktur im dritten Quartal stützen.

Die EZB gehe gehen davon aus, dass die Inflation unter anderem aufgrund des anhaltenden Drucks durch die Energie- und Lebensmittelpreise noch einige Zeit unerwünscht hoch bleibe. "Ein höherer Inflationsdruck ergibt sich auch aus der Abwertung des Euro-Wechselkurses", sagte Lagarde. Ein schwacher Euro verteuert Importe, was die Inflation weiter anheizt. Die Gemeinschaftswährung hat seit Jahresbeginn zum Dollar mehr als zehn Prozent an Wert verloren.

Neues Werkzeug zur Stützung verschuldeter Euro-Staaten

Die Zinswende ergänzend verständigten sich die Währungshüter auf ein neues Krisen-Anleihenkaufprogramm, mit dem die EZB stark verschuldeten Staaten wie Italien bei Turbulenzen am Anleihenmarkt helfen kann. Das neue Werkzeug (Transmission Protection Instrument – TPI) soll dabei helfen, dass die Geldpolitik gleichmässig im Euroraum wirken kann und es nicht zu einem Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Eurostaaten kommt. Die Einheitlichkeit der Geldpolitik des EZB-Rats sei eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen könne, erklärte die Notenbank.

Laut Lagarde kann jedes Land der Euro-Zone im Prinzip in den Genuss des Programms kommen. TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert werde. Dabei würden eine Reihe von Indikatoren als Kriterien herangezogen. Der EZB-Rat werde darüber in eigener Regie entscheiden.

Der Umfang der Anleiheankäufe im Rahmen des TPI soll laut EZB von der Schwere der Gefahren abhängen. Die Ankäufe sind den Währungshütern zufolge "nicht von vornherein beschränkt". Dabei bindet die EZB das Programm am mehrere Bedingungen, wie etwa die Schuldentragfähigkeit. "Der EZB-Rat möchte es eigentlich nicht einsetzen, aber wenn wir das nutzen müssen, werden wir nicht zögern. Wir werden nicht zögern", betonte Lagarde. 

(Reuters)