Dabei berief sich der Minister auf den zweiten Stromnetz-Stresstest, dessen Resultate er am Montag in Berlin vorstellte. Dieser komme zu dem Ergebnis, "dass stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können", hiess es in einer Mitteilung seines Ministeriums.

"Wir sind hier nicht in einer Situation, wo wir auf das Beste hoffen können, sondern wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen", sagte Habeck. Man könne nicht ausschliessen, dass Atomkraftwerke bei der angespannten Situation einen Beitrag leisten könnten. Das sei eine Debatte, die in Deutschland traditionell hohe politische Wellen schlage, viele Emotionen binde und die Republik lange beschäftigt habe, sagte er zum Betrieb von Atomkraftwerken.

Was beim Stresstest untersucht wurde

Beim Stresstest wurden drei Szenarien mit unterschiedlich schwierigen Bedingungen durchgespielt. Es ging dabei zum Beispiel um Annahmen zum Pegelstand der Flüsse, über die die ebenfalls Strom erzeugenden Kohlekraftwerke beliefert werden. Auch verschiedene Annahmen zur Verfügbarkeit der französischen Atomkraftwerke wurden durchgespielt.

Dabei ging es um zwei Kernfragen: Steht auch unter schwierigen Bedingungen so viel Strom zur Verfügung wie benötigt wird, und zwar in Deutschland und in europäischen Nachbarländern? Und bleibt das Stromnetz unter diesen Bedingungen stabil?

Kraftwerke in Reserve

In Reserve würden die Kraftwerke laut Habeck kein atomares Brennmaterial verbrauchen und auch keinen Strom produzieren. Das Personal für einen möglichen Wiederbetrieb würde bereitgehalten. Um ein Reservekraftwerk ans Netz zu bringen, brauche es ungefähr eine Woche, sagte Habeck. Sollten die Kraftwerke zum Einsatz kommen, dann würden sie wohl auch bis Mitte April laufen. Ein ständiges An und Aus soll es also nicht geben.

Der Energieversorger Eon will nun technisch und organisatorisch prüfen, wie ein Reservebetrieb bei seinem Kraftwerk in Bayern funktionieren könnte. Kernkraftwerke seien in ihrer technischen Auslegung keine Reservekraftwerke, die variabel an- und abschaltbar seien. Auch EnBW will schauen, wie sich Habecks Vorschlag umsetzen liesse.

Warum das dritte AKW nicht in die Reserve soll

Das Atomkraftwerk Emsland in Niedersachsen könne zwar einen gewissen Beitrag leisten, sagte Habeck. "Aber dieser Beitrag ist gemessen an den beiden süddeutschen Kraftwerken zu gering." Der Vorsitzende des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz, Stefan Kapferer, erklärte für die vier Übertragungsnetzbetreiber: "Wir haben vorgeschlagen, alle drei Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen, aber der Minister hat richtig dargestellt, dass die Funktion der beiden süddeutschen Kraftwerke eine deutlich andere ist als des Kraftwerks in Lingen." Auch die Netzbetreiber sähen das so.

Wie es weiter geht

Damit sein Plan umgesetzt werden kann, wären laut Habeck Gesetzesänderungen nötig, vermutlich am Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung. Auf dieser Grundlage würden dann weitere Fragen etwa zur Haftung und dem Atomrecht geklärt.

Wichtig ist hier insbesondere die Frage der Sicherheit. In Europa müssen an Atomkraftwerken eigentlich alle zehn Jahre umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen stattfinden. Bei den deutschen AKW liegt das nun schon dreizehn Jahre zurück. Im Zuge des Atomausstiegs 2011 wurde den Betreibern die Kontrollauflage erlassen, da klar war, dass die AKW Ende 2022 abgeschaltet werden sollten.

Eine solche umfassende "periodische Sicherheitsüberprüfung" sei in der Reserve nicht machbar, sagte Habeck. Die geltende Ausnahme müsse also verlängert werden - aber nur für diesen einen Winter. Eine Verlängerung der Reserve über Mitte April hinaus oder eine Wiederbelebung der Reserve im Winter 2023/2024 sei "aufgrund des Sicherheitszustands der AKW und den grundsätzlichen Erwägungen zu den Risiken der Atomkraft ausgeschlossen", schreibt das Wirtschaftsministerium in einem Papier. Habeck sagte, die Regierung habe den Auftrag, die Energieversorgung zu sichern, weshalb sein Vorschlag auch verfassungskonform sei.

Habeck: Keine Abkehr vom Atomausstieg

Als Abkehr vom deutschen Atomausstieg will Habeck seine Pläne nicht verstanden wissen. "Es wird in dieser Legislaturperiode keine Verlängerung der Laufzeit über diesen Winter (hinaus) geben", betonte er. "Es wird keine Beladung von AKWs mit neuen Brennelementen geben. Es wird keine Entscheidung für den Neubau von Atomkraftwerken geben." Dies sei auch absurd, weil die Atomkraft "Teil des Problems" sei.

Kritik von Union und FDP, Zuspruch bei SPD und Grünen

Zuvor hatte nicht nur die oppositionelle Union, sondern auch die an der Regierung beteiligte FDP für einen Fortbetrieb der Atomkraftwerke geworben. Die FDP ist unzufrieden damit, dass nur zwei von drei möglichen Atomkraftwerken als Reserve vorgehalten werden sollen. "Es ist eine Frage der Vernunft, jetzt jede klimaneutrale Kilowattstunde zu ermöglichen. Denn die Gaskraftwerke treiben die Preise", schrieb FDP-Vize Johannes Vogel bei Twitter. Vogel weiter: "Habecks Notreserve ist ein Schritt, aber erscheint auch als politischer Notausgang. Die FDP bleibt dran: Für den Weiterbetrieb der 3 Kernkraftwerke!"

Zuspruch kam hingegen vom Koalitionspartner SPD. Fraktionsvize Matthias Miersch begrüsste das Stresstest-Ergebnis und Habecks Empfehlung als "gute Grundlage für faktenbasierte und sorgfältige Beratungen". "Die wünsche ich mir auch von denjenigen, die schon vor Bekanntgabe der Ergebnisse nach einer Laufzeitverlängerung schreien", sagte Miersch. "Der Stresstest zeigt: Atom ist nicht die von vielen gewünschte Generallösung."

Die beiden Vorsitzenden von Habecks Grünen-Fraktion, Britta Hasselmann und Katharina Dröge, unterstützte den Minister. "Da wir einen angespannten Winter vor uns haben, schlägt der Wirtschaftsminister vor, zwei AKWs zur Absicherung einmalig für die Wintermonate in eine Reserve zu stellen. Das heisst, sie gehen planmässig zum Ende des Jahres vom Netz, und werden nur im Notfall, auf Beschluss des Bundestags wieder aktiviert", erklärten die beiden Politikerinnen. Die Fraktion werde den Vorschlag nun intensiv diskutieren.

Die Spitze der Unionsfraktion kritisierte die Entscheidung der Bundesregierung als fatalen Fehler und parteipolitisch motiviert. "Diese drei Kernkraftwerke könnten in dieser Krise sicher, verlässlich und bezahlbar Energie, Strom für Deutschland liefern. Und das sollten sie auch mindestens noch in den nächsten zwei Wintern tun", sagte Unionsfraktionsvize Jens Spahn (CDU).

Empörung bei Umweltverbänden

Umweltverbände reagierten empört. Habeck kündige den Konsens zum Atomausstieg auf, lautete ein Vorwurf. "Eine Bereithaltung der Atomkraftwerke über den 31. Dezember hinaus ist inakzeptabel und verhindert die notwendige Energiewende - gerade im Süden Deutschlands", erklärte der geschäftsführende Vorstand von Greenpeace Deutschland, Martin Kaiser. "Ein erhebliches Sicherheitsrisiko mit den letzten und alten Atomkraftwerken einzugehen, ist von Habeck trotz Energieversorgungskrise unverantwortlich."/cn/DP/nas

(AWP)