"Infolge der schweren Versäumnisse im Ermittlungsverfahren stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen", sagte Dierlamm. Der Verteidiger warf der Staatsanwaltschaft schlampige und fehlerhafte Ermittlungen als auch gravierende Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien vor. So beschuldigte der Rechtsanwalt die Ermittler, der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten zu haben. Die vierte Strafkammer des Landgerichts München I will im Laufe der nächsten Prozesstage entscheiden, ob sie den Prozess tatsächlich stoppt.

Der seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzende Braun ist gemeinsam mit zwei weiteren früheren Wirecard-Führungskräften angeklagt, mit Hilfe erfundener Geschäfte Banken und andere Kreditgeber um mehr als drei Milliarden Euro geprellt zu haben.

Dierlamm sagte dazu, Braun habe noch kurz vor dem Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters Wirecard-Aktien für 2,5 Millionen Euro gekauft. "Eine geradezu abwegige und absurde Vorstellung, dass ein Bandenanführer so handelt."

Braun sieht sich nach eigener Darstellung als Opfer krimineller Machenschaften seiner Untergebenen. Als Haupttäter beschuldigte Dierlamm den Mitangeklagten Oliver Bellenhaus, ehedem Geschäftsführer der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai. Bellenhaus dient der Staatsanwaltschaft als Kronzeuge.

Der Dax -Konzern brach im Sommer 2020 zusammen, nachdem der Vorstand einräumte, dass 1,9 Milliarden angeblich auf Treuhandkonten verbuchte Euro nicht auffindbar waren. Dierlamm warf der Staatsanwaltschaft vor, zahlreiche Hinweise auf den Verbleib des Geldes ignoriert zu haben. "Follow the money" (folge dem Geld), sagte Dierlamm - doch die Staatsanwaltschaft sei der Spur nicht gefolgt. "Aufklärung Fehlanzeige." Stattdessen hätten die Ermittler die Anklage auf Bellenhaus' Aussagen gestützt, dessen Glaubwürdigkeit Dierlamm grundlegend in Zweifel zog.

Der Anwalt hielt der Staatsanwaltschaft auch vor, der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten zu haben. Es seien "gravierende Rechtsstaatsverstösse". Landgericht und Oberlandesgericht München seien bei der Zulassung der Anklage und den regelmässigen Haftprüfungen auf den Zug der Staatsanwaltschaft aufgesprungen.

Dierlamms letzter Angriffspunkt: Die Staatsanwaltschaft schickte nach Worten des Anwalts kurz vor Beginn der Hauptverhandlung immense Mengen an Akten, Daten und Kontounterlagen an die Anwälte, allein am 7. November 128 Aktenbände. "Vier Wochen vor der Hauptverhandlung 44 000 neue Aktenseiten."

Nach Worten des Verteidigers hat keiner der 450 Zeugen Braun beschuldigt. Es existierten keine Mail und keine Chat-Nachricht, die eine Täterschaft Brauns belegten. Der Anwalt beschuldigte seinerseits Bellenhaus, massgeblich an der Veruntreuung von Milliardenbeträgen beteiligt gewesen zu sein.

Braun selbst will - anders als angekündigt - zumindest bis Weihnachten nichts zu den Vorwürfen sagen. Bellenhaus will sich äussern. Dessen Anwälte versuchten, Brauns Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Verteidiger Florian Eder hielt Braun vor, trotz jahrelanger Zweifel an den Wirecard-Bilanzen die Vorgänge nie untersucht zu haben. "Es war Teil des Systems Wirecard, Angriffen mit Gegenangriffen zu begegnen." Der Vorstandschef eines Dax-Unternehmens wolle über Jahre nicht mitbekommen haben, was in seinem Unternehmen losgewesen sei. "Die Wirecard als solche war ein Blendwerk", sagte Eder.

Der dritte Angeklagte - der ehemalige Chefbuchhalter - schweigt ebenfalls. Verteidigerin Sabine Stetter attackierte Bellenhaus im Laufe ihrer kurzen Eröffnungserklärung ebenfalls. Sofern die Kammer das Verfahren nicht aussetzt, wird der Prozess voraussichtlich bis 2024 dauern./cho/DP/men

(AWP)