cash.ch: Herr Hens, die Märkte sind seit Jahresbeginn und auch sechs Monate nach Kriegsausbruch in der Ukraine äusserst nervös. Wie beurteilen Sie die Lage?

Prof. Thorsten Hens: Der Markt wird immer dann besonders nervös, wenn etwas kommt, das er nicht kennt. Das war bei der Pandemie so, und so ist es nun beim Ukraine-Krieg. Die Märkte sind 20 bis 25 Prozent gefallen, das heisst, wir befinden uns per Definition in einem Bärenmarkt.

Das nächste, ebenfalls per Definition, wäre ein 'Mega Meltdown', also eine Art Markt-Kernschmelze oder Kollaps mit Rückgängen von 40 Prozent und mehr. Wie wahrscheinlich ist das?

Statistisch gesehen ist das eher unwahrscheinlich. Ein 'Mega Meltdown' tritt ausgehend von einem Bärenmarkt mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent ein. Aber das ist wie gesagt die Statistik. Und darauf kann man sich natürlich nicht verlassen.

Die Umsätze an den Börsen sind massiv gefallen. Es macht den Anschein einer 'Schockstarre' an den Börsen.

Das stimmt. Was eigentlich ein Zeichen wäre, dass wir ganz unten sind. Schockstarre ist ein typisches Zeichen dafür.

Besteht irgendwie noch Hoffnung, dass sich das Blatt an den Aktienmärkten wendet bis Jahresende?

Meine Prognose zu Jahresbeginn für 2022 war minus 10 Prozent. Nun sind wir bei rund minus 20 Prozent. Insofern denke ich, dass sich der Markt noch 10 Prozent erholen wird. Dann läge ich mit meiner Prognose goldrichtig.

Einiges hätte man für dieses Jahr als Investor ja vorausahnen können, etwa den Zinserhöhungszyklus auch in diesem Ausmass.

Das ist der sogenannte 'Hindsight Bias', also der Rückschaufehler. Oder einfacher gesagt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Es war klar, dass die Zinsen irgendwann steigen würden. Der Auslöser für die Zinserhöhungen waren sicherlich die Rohstoffpreise. Es wurde während der Coronakrise genug Liquidität angehäuft, und dann brauchte es einen Funken.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie Anfang Februar, kurz vor Ausbruch des Krieges, noch Aktien gekauft haben…

Ich kaufe nach wie vor Aktien. Ich bin ein Rebalancer. Ich weiss, das ist schwierig, und man muss da unten durch. Aber ich habe schon viele Börsenkrisen durchgemacht. In der Dotcom-Blase ging es Jahr für Jahr immer weiter nach unten. Irgendwann ist man dann auch 'ausgeschossen', weil man nicht mehr nachkaufen kann. Über drei Jahre Aktien Nachkaufen in sinkenden Märkten - das war sehr schmerzhaft, aber es hat sich ausgezahlt. Die Corona-Krise war dann fast schon zu schnell dafür. Viele Investoren haben das Nachkaufen verpasst, weil die Märkte sehr schnell wieder gestiegen sind. Aber jetzt haben wir eine typische Krise wie die Finanzkrise 2007/08, in der Rebalancing gut möglich ist.

Rebalancing, das machen vor allem institutionelle Anleger wie Pensionskassen, die ihre vordefinierten Quoten bei Aktien oder anderen Anlageklassen einhalten und dann bei Marktveränderungen handeln müssen.

Ja – das ist deren typische Strategie. Aber Pensionskassen müssen immer auch auf die Regulierung schauen. In einem Bärenmarkt sinkt der Deckungsgrad, und irgendwann könnte der Regulator einschreiten und sagen, dass ein Deckungsgrad von unter 90 Prozent Sanierungsmassnahmen erfordere. Um das zu vermeiden, müssen sie sich auch mit entsprechenden Finanzinstrumenten schützen, etwa mit 'Out of the Money Puts'. Sonst verliert man die Handlungsfreiheit.

Das Rebalancing eines Portfolios erfordert viel Disziplin. Ist eine solche Strategie tatsächlich auch für Privatanleger geeignet? 

Disziplin lernt man mit dem Alter. Wenn man durch mehrere Krisen gegangen ist, eignet man sich das an. 

Viele Anleger kaufen blindlings Aktien, die 70 Prozent oder mehr verloren haben. Auf was führen Sie dieses Verhalten zurück?

Wir nennen dies den 'Anchoring Bias'. Man kennt den hohen Preis der Aktie und denkt dann nach dem Rückgang, das sei ein Schnäppchen. Aber man muss aufpassen: Auf Indexebene kann man natürlich kontrazyklisch anlegen wie beim Rebalancing, weil ein Index gut diversifiziert ist. Einzelaktien können sich aber auflösen. Ich selber hatte einmal Air Berlin in meinem Portfolio und auch Wirecard, und habe da auch nachgekauft. Da habe ich was gelernt: Man muss rebalancieren mit Indizes wie Pensionskassen, und nicht mit Einzeltiteln.

Jetzt ist auch wieder die Zeit gekommen für Leute, welche die Börsen als Casinos bezeichnen. Was entgegnen Sie?

Die Börsen sind keine Casinos. Die Börsen haben eine wirtschaftliche Funktion. Sie müssen die Unternehmen finanzieren, und man partizipiert als Investor an der Wertschöpfung der Volkswirtschaft. Langfristig hat man als Investor eine Aktienprämie zwischen 5 und 6 Prozent. Allenfalls kann man die kurzfristigen Schwankungen als Casino bezeichnen. Als Investor darf man sich davon aber nicht verrückt machen lassen und die langfristige Entwicklung im Auge behalten. 

Eine Studie eines Schweizer Vermögensverwalters will herausgefunden haben, dass Frauen in diesem Jahr viel mutiger und riskanter investiert haben als Männer. Falls dem so ist: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Wir haben vor längerer Zeit eine Studie mit der Zürcher Kantonalbank durchgeführt, welche in diesen Themenbereich geht. Wir haben herausgefunden, dass die Frauen, welche den Haushalt erledigen, viel risikoscheuer sind als die Frauen, die einem anderen Beruf nachgingen. Und diese Frauen waren im Schnitt risikofreudiger als die berufstätigen Männer. Das heisst: Die Frauen, die am Aktienmarkt investiert sind, repräsentieren nicht die 'durchschnittliche' Frau. Meine Frau investiert auch nicht in Aktien, sondern in Immobilien, Gold, Antiquitäten und Schmuck, also Realwerte. Ich kann nicht sagen, dass sie schlechter investiert ist als ich.

Sie selber machen ja laut eigener Aussage lediglich vier bis fünf Trades pro Jahr. Ist das nicht etwas wenig?

Vielleicht ist es sogar etwas zu viel, ich weiss es nicht. Das hängt davon ab, wie man investiert ist. Ich halte ein paar passive Produkte, und was soll man da viel traden? 

Sie bezeichnen sich als grosser Anhänger von Exchange Traded Funds, kurz ETF.

ETF sind eine preiswerte Art, zu partizipieren. Aktien-ETF eignen sich für Anleger, die ihre Anlagen breit streuen wollen. Hier bin ich persönlich der Meinung, man sollte den S&P 500 nehmen und nicht den MSCI World. Das beschert mir immer Diskussionen mit vielen ETF-Jüngern. Ich denke eben, die guten Firmen lassen sich in den USA kotieren, und dann muss man nicht die ganze Welt haben. Ich bin aber auch ein 'Core-Satellite'-Investor. Also ich habe einen Anlage-Kern und daneben ein paar Satelliten, bei denen ich denke, dass ich mehr weiss als die anderen. Die Hoffnung stirbt zuletzt (schmunzelt).

Also doch ein wenig Trader-Gen bei Professor Hens?

Klar. Aber das liegt auch an der Persönlichkeit. Es gibt Leute, die sehen das nüchtern und wollen einfach nur Geld verdienen. Ich selber bin vom Beruf her aber schon zu stark in der Thematik. Und da versuche ich es eben das eine oder andere mal. Aber nur bei Satelliten.  

Thorsten Hens ist Verhaltensökonom. Er ist Professor für Finanzökonomie und stellvertretender Leiter des Instituts für Banking und Finance an der Universität Zürich. Hens studierte an der Universität Bonn und an der Département et Laboratoire d'Économie Théorique Appliquée in Paris. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem Finanzwirtschaft und Evolutionary Finance.
 
Das Interview mit Thorsten Hens fand diese Woche am Rande des International Structured Products Forum in Luzern statt, wo Hens als Referent auftrat.