Bei der Abstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen im Jahr 2016 hat sich Thomas Leuthard eine Frage gestellt: «Was würde ich mit 2500 Franken im Monat anstellen?» Er griff zum Taschenrechner und stellte fest: So viel Geld reichte ihm zum Leben. Denn er hat weder Frau noch Kinder und lebt sparsam. «Hätte ich das bedingungslose Grundeinkommen bekommen, hätte ich direkt gekündigt.»

Da sich die Schweizer dann aber gegen das staatliche Taschengeld entschieden, stellte Leuthard seine eigenen Ersparnisse auf den Prüfstand. In seinem IT-Job im öffentlichen Dienst verdiente er viel Geld – mehr jedenfalls, als er ausgeben wollte. Alles, was er nicht zum Leben brauchte, parkierte er seit Jahren auf einem Sparkonto. Dort hat sich über die Jahre eine stattliche Summe aufgetürmt. Um genau zu sein: genug Geld, um die Arbeit einzustellen. Zurzeit hat Leuthard rund 1,85 Millionen Franken auf der hohen Kante.

"Fire"-Bewegung

Schon im Jahr 2016 machte Leuthard ernst und kündigte seinen Job. Seitdem bekommt der heute 48-Jährige kein Salär mehr, stattdessen entnimmt er seinem Vermögen jeden Monat 2500 Franken. Im Internet fand er für sein Lebenskonzept sogar einen Namen: Gleichgesinnte verstehen sich als Anhänger der Fire-Bewegung. Die Abkürzung steht für «Financial Independece, Retire Early», also: finanzielle Unabhängigkeit, früh in Rente gehen. Andere nennen sich Frugalisten, abgeleitet vom englischen Wort «frugal», zu Deutsch: sparsam.

Auf Blogs geben die selbst ernannten Frugalisten ihren Lesern gern Tipps, wie sie noch mehr Geld zurücklegen können, in Foren tauschen sie sich über ihr Vermögen aus. Auch Leuthard erzählt regelmässig in zwei Podcasts über sein Frugalistendasein. Seine populären Spartipps lauten: sich selbst die Haare schneiden. Keine Markenartikel kaufen. Abos kündigen. Und festes statt flüssiges Shampoo, denn das reiche viel länger. Ausserdem kocht Leuthard alles selbst. Fertiggerichte oder auswärts essen – so etwas ist ihm viel zu teuer. Ein Restaurant betritt er nur, wenn er eingeladen wird. Ansonsten geht er lieber picknicken.

Viele sind in ihrem Job unglücklich

Kann das glücklich machen? Mathias Binswanger sieht die Fire-Bewegung skeptisch. Er ist Glücksforscher und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. «Wer jetzt alles spart und nur aufs Geld aus ist, der glaubt, das Glück in die Zukunft verschieben zu können, was aber nur selten funktioniert», sagt Binswanger. Seine Vermutung ist deshalb: Viele Fire-Anhänger sind in ihrem Job unglücklich, sehnen den Tag der Kündigung herbei. «Die Freude an der Arbeit ist eine Bedingung für eine glückliches Leben. Wir definieren uns auch stark über das, was wir tun», sagt der Ökonom.

Der Frugalist: Der 48-jährige Thomas Leuthard kündigte seinen Job im Jahr 2016. Seitdem hat er kein Salär mehr, stattdessen entnimmt er seinem Vermögen jeden Monat 2500 Franken. Er hat 1,85 Millionen Franken zur Seite gelegt. (Bild: ZVG)

Diese Erfahrung hat auch Frugalist Leuthard nach seiner Kündigung gemacht. Wer neue Menschen kennenlernt, höre eben schnell die Frage: Was machst du so? Wenn der 48-Jährige anderen Menschen dann erklärt, dass er nicht mehr arbeitet und von seinem Ersparten lebt, stösst das oft auf Unverständnis: «Die meisten fragen mich dann, was ich denn sonst den ganzen Tag lang mache», erzählt er. Die Frage hat sich Leuthard nach seinem ersten halben Jahr als Frühestrentner auch gestellt. «Am Anfang hat man noch eine Liste mit Dingen, die man unbedingt mal machen wollte. Aber die ist schnell abgearbeitet. Dann setzt der Alltagstrott ein», gibt er zu.

Finanziell frei mit Ehrenämtern

Darum hat er sich längst wieder Beschäftigung gesucht und allerlei Ehrenämter ausprobiert: Aushilfskraft auf dem Wertstoffhof (Receyclingstelle). Seniorenbetreuer. Auch Reisebegleiter war er schon. Hängen geblieben ist er zwischenzeitlich beim Foodsharing. Das Prinzip: Wer ein Lebensmittel nicht braucht, gibt es weiter. Auch Supermärkte beteiligen sich daran, verschenken kurz vor Ladenschluss Lebensmittel, die sonst in der Tonne landen würden. Für Frugalisten ein Traum – denn diese Beschäftigung spart wiederum viel Geld. Schliesslich gibt der durchschnittliche Schweizer Haushalt laut dem Bundesamt für Statistik 632 Franken pro Monat für Lebensmittel aus. In einem solchen Durchschnittshaushalt bleiben wiederum 942 Franken zum Sparen übrig, das ist gerade mal ein Zehntel des durchschnittlichen Bruttoeinkommens. Frugalisten wäre eine solche Sparquote viel zu tief.

Der Glücksforscher: «Wer jetzt alles spart und nur aufs Geld aus ist, der glaubt, das Glück in die Zukunft verschieben zu können, was aber nur selten funktioniert», sagt Mathias Binswanger, Glücksforscher und Professor für Volkswirtschaft. (Bild: ZVG)

Der deutsche Frugalist Oliver Noelting ist dreissig Jahre alt und arbeitet noch, will aber an seinem vierzigsten Geburtstag aussteigen. Deshalb lege er monatlich 70 Prozent seines Einkommens beiseite, sagt er. Auf diese Weise will er schnellstmöglich das 25-Fache seines Jahresverdienstes auf der hohen Kante haben. So viel brauche er, um in Rente gehen zu können, schreibt der überzeugte Radikal-Sparer in seinem Blog.

Volkswirt Binswanger hält derlei Rechnungen für unsinnig: «Ich weiss doch jetzt nicht, wie ich mit fünfzig, sechzig oder gar achtzig Jahren leben möchte und welche Bedürfnisse ich dann habe», erklärt er. «Nur weil ich jetzt mit 2000 Franken zurechtkomme, heisst das noch lange nicht, dass mir das auch in Zukunft reicht.»

Eine andere Regel der Fire-Anhänger lautet: Nie mehr als 4 Prozent pro Jahr vom eigenen Vermögen abzwacken. Der Gedanke dahinter: Wer sein Geld am Kapitalmarkt angelegt hat, macht im Jahr vielleicht ein durchschnittliches Plus von 4 Prozent. Wer nur das entnimmt, was er am Markt gewonnen hat, bewahrt also das eigene Vermögen. Auch diese Regel ergibt aus Ökonomensicht wenig Sinn: «Eine Rendite von 4 Prozent zu erreichen, ist heute schon schwierig. Und wird in Zukunft sicherlich nicht einfacher», sagt Binswanger. Zudem müssten Frugalisten weitere Risiken miteinbeziehen, etwa steigende Miet- oder fallende Immobilienpreise.

Sparen als Nebeneffekt

Leuthard hält sich nicht an irgendwelche Faustregeln. Er verlässt sich rein auf sein Gefühl. Wichtig ist ihm allerdings: «Das Geld darf nicht weniger werden. Schliesslich ist das meine Altersvorsorge!» Das Vermögen soll nun mal bis zum Lebensende reichen. Zusätzlich zahlt er noch den Pflichtbeitrag in die Alters- und Hinterlassenenversicherung ein. Für seine 200 000 Franken in der Säule 3a hat er den maximalen Aktienanteil von 97 Prozent gewählt. Seinen Anteil aus der Pensionskasse hat er sich auszahlen lassen. «Das Geld habe ich dann selbst investiert. Das bringt viel mehr, als es in der Pensionskasse liegen zu lassen», sagt Leuthard, der nun zum Grossteil in Aktien investiert. «Hätte ich von Anfang an auf Aktien gesetzt, hätte ich vermutlich auch schon mit 30 statt mit 46 Jahren in Rente gehen können.»

Der Sparkojote: Geldanlage ist sein Hobby. Der 23-jährige Thomas Kovacs nennt sich auf Youtube Sparkojote. Dort gibt er Geld- und Spartipps. Sein Ziel: Im Alter von dreissig Jahren Millionär sein. Derzeit hat er schon fast 200'000 Franken gespart. (Bild: Screenshot)

Thomas Kovacs hat die Welt der Aktien sehr früh für sich entdeckt. Der 23-jährige Schweizer Youtuber nennt sich im Netz Sparkojote und gibt dort einen präzisen Einblick in sein sparsames Leben. Sein Ziel: Im Alter von dreissig Jahren will er Millionär sein. Dazu lebt auch er sehr sparsam und legt sein Geld an. Trotzdem will er nicht Frugalist genannt werden. Er selbst bezeichnet sich vielmehr als Minimalist: «Frugalisten konzentrieren sich auf das Sparen. Bei mir ist das Sparen ein willkommener Nebeneffekt des Minimalismus.» In seinen Berichten und Videos erzählt er offen, wie viel Geld er wo investiert hat. Demnach besitzt Kovacs im Moment 182 960 Franken. Rund die Hälfte seines Vermögens hat er in Aktien investiert, einen Viertel hält er in bar. Spekulative Anlagemöglichkeiten wie Kryptowährungen und Kredite an Privatpersonen machen 4 Prozent aus.

Geldanlage sei sein Hobby. Darum handelt er auch nur mit einzelnen Aktien, anstatt etwa in Fonds oder ETF zu investieren. «Mir ist klar, dass ich damit wohl nicht den Markt schlage, aber es macht mir Spass», sagt Kovacs. Genauso viel Spass macht ihm sein Leben als Selbstständiger. Seinen Job als Datenbankadministrator bei der UBS hat er im vergangenen Jahr aufgegeben. Einen frühzeitigen Ruhestand wie die Frugalisten plant er aber keinesfalls: «Dann müsste ich ja aufgeben, was ich liebe», sagt er. Viel wichtiger als ein Leben ohne Arbeit sei finanzielle Unabhängigkeit. Und die, so sagt er, hat er mit seiner ersten Million erreicht. Laut seinem Plan also in sieben Jahren.

Zahlen zum Thema

  • 182 960 Franken hat der erst 23-jährige Schweizer Thomas Kovacs bereits gespart. Er will im Alter von dreissig Jahren Millionär sein.
  • 70 Prozent seines Einkommens spart der deutsche Frugalist Oliver Noelting (30). Er will im Alter von vierzig Jahren aussteigen.
  • 1,85 Millionen Franken hat der 48-jährige Thomas Leuthard auf der Seite. Er ist vor zwei Jahren ausgestiegen und lebt sehr sparsam.
  • 97 Prozent beträgt die Aktienquote der Säule 3a von Thomas Leuthard. Er hätte gerne schon früher viel in Aktien investiert.


Dieser Artikel erschien zuerst bei der Handelszeitung unter dem Titel "Fertig Arbeit!"