Kaum ein Ereignis hat die Fundamente der internationalen Politik im 21. Jahrhundert so erschüttert wie der russische Angriff auf die Ukraine. Zwar sind Verstösse gegen die westlich kodifizierte, regelbasierte Weltordnung nicht neu; doch das Ausmass und die Konsequenz, mit der hier grundlegende Normen – etwa das Prinzip der territorialen Integrität – über Bord geworfen wurden, markieren einen epochalen Wendepunkt. Was lange als Riegel gegen Willkür galt, ist spätestens seit Februar 2022 zu einer hohlen Formel verkommen. Die Weltordnung wankt – und bröckelt sichtbar.
Die USA wenden sich von Europa ab
Gleichzeitig begann sich, zunächst fast unbemerkt, eine weitere tektonische Verschiebung zu beschleunigen: Während im Donbass die Panzer rollten, gerieten die USA und China immer häufiger und heftiger aneinander. Die Zeit, da Washington als Ordnungsmacht global intervenierte und Europa zum bevorzugten Verbündeten zählte, scheint endgültig vorbei zu sein. Vielmehr hat sich der Schwerpunkt der Weltpolitik nach Asien verlagert – der Pazifik ist die neue Arena der Machtfrage. In den USA wird China mittlerweile in Regierungskreisen offen als systemischer Rivale, ja als Bedrohung wahrgenommen; die wechselseitige Spirale aus Technologiesanktionen, Zöllen und Propaganda dreht sich mit immer höherer Geschwindigkeit. Währenddessen bleibt Europa, gebannt von der eigenen Ohnmacht, das fassungslose Händeringen.
Ukraine-Krieg und eine geänderte US-Interessenslage – für Europa ist dies ein doppelter Schock. Einerseits offenbart der russische Krieg in brutaler Klarheit die militärischen Defizite des Kontinents – trotz zuletzt zunehmender Investitionen bleibt Europas Verteidigungsfähigkeit erschütternd bescheiden. Die realsatirisch anmutenden und ratlos-grotesk wirkenden Diskussionen über mögliche Reaktionen auf Drohnen- und Cyberattacken, die Hilflosigkeit gegenüber Sabotagen von Pipelines und Tiefseekabeln oder die Ohnmacht angesichts externer Einflussnahme auf die politische Meinungsbildung – man möchte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie Europa auf einen klassischen und hart geführten militärischen Angriff reagieren würde.
Grosse Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Andererseits löst sich der Mythos von der «Gestaltungsmacht Europa» im Licht der Realität auf: Europas Anspruch und seine tatsächlichen Fähigkeiten klaffen weiter auseinander als je zuvor. Spätestens seit Washington mit dem Abzug eigener Truppen liebäugelt und Präsident Macron öffentlich vor dem «Hirntod» der NATO warnt, wird deutlich, wie ausgehöhlt die Sicherheitsarchitektur des Kontinents tatsächlich ist.
Der Ernüchterung nicht genug – denn auch das ökonomische Feld bleibt nicht verschont. Die Energiekrise im Winter 2022/23 veranschaulicht bitter, wie sehr Europa von externen Akteuren abhängig ist. Bis zum Kriegsausbruch floss russisches Gas in nie dagewesener Menge durch die Pipelines; die politischen Mahnungen zur Diversifizierung blieben – wider besseres Wissen – jahrelang ungehört.
Wo bleibt der souveräne Gestaltungsspielraum?
Der energiepolitische Schuss vor den Bug war mehr als deutlich. Hat man ihn denn auch wahrgenommen und die Lehren daraus gezogen? Es sind Zweifel angebracht. Noch immer strömt russisches Gas nach Europa. In verflüssigter Form sekundiert durch Gas aus den USA und Katar. Dass die Importdiversifizierung in dieser Form fraglich ist, zeigt sich in diesen Tagen: Denn spätestens mit den Lieferstopp-Drohungen aus Katar und den USA als Reaktion auf Brüsseler Vorgaben wird die Illusion souveräner Energiepolitik endgültig ad absurdum geführt.
Auch in der Halbleiterkrise zeigte und zeigt sich Europas Regulierungswut und Luftschlossmentalität ungeschminkt: Während chinesische Exportkontrollen und asiatisch dominierte Lieferketten die Preisspirale antreiben und die Verwundbarkeit im Bereich der Seltenen Erden immer augenscheinlicher wird, setzt Europa die eigentlich gar nicht mal so schlechte Ausgangsposition in der Chipproduktion durch den bekannten Bürokratismus vollends auf Spiel. Daten- und Digitalpolitik? Bestenfalls ein Feigenblatt und der in Europa allseits bekannte Papiertiger. Es diktieren vielmehr amerikanische Rechtsakte – vom CLOUD Act bis zum Digital Services Act –, wie europäische Unternehmen weitgehend zu agieren haben.
Die Abhängigkeiten sind folgenschwer
Diese Abhängigkeiten haben konkrete Folgen: Europas Rolle beim Ukrainekrieg ist die eines zwar laut bellenden, aber letztlich machtlosen Geldgebers – die strategischen Entscheidungen fällen andere, etwa beim Debakel um US-Sicherheitsgarantien, bei der Verhandlung zentraler Waffenlieferungen oder gegenwärtig beim Schachern um ein Ende der Kampfhandlungen.
Im Handelskonflikt mit den USA muss sich Brüssel um Ausnahmen bemühen, etwa bei neuen Autozöllen, ohne den Verlauf des Spiels massgeblich beeinflussen zu können. In der Industriepolitik setzt China zu Siegeszügen an, wie das Beispiel E-Mobilität eindrücklich zeigt: Während chinesische Hersteller heute global dominieren und die europäischen Rivalen sich in einem ebenso langwierigen wie schmerzhaften Todeskampf befinden, wird in Brüssel noch immer darüber gestritten, wie die «Souveränität» auf dem Papier zu retten sei.
Anstatt aus diesen Krisen Strategien für eine neue Zeit zu entwickeln, verharrt das europäische Selbstverständnis auf hohem moralischem Ross, welches gleichzeitig Anzeichen einer Erschöpfungsdepression zeigt. Mehr Regulierung, ambitionierte Vorgaben im Klima- und Umweltschutz, neue Berichtspflichten für Unternehmen – all das bremst ordentlich und nimmt der ohnehin angeschlagenen Wirtschaft wichtigen Handlungsspielraum. Während China, aber auch die USA, pragmatisch auf eigene Interessen setzen, bleibt Europa im Dickicht idealistischer Prinzipien und administrativer Lasten stecken.
Zurück zum Dschungel
Setzt man diese geo-, handels- und sicherheitspolitischen Realitäten in einen grösseren Zusammenhang, so lässt sich erstens festhalten, dass die globale Arbeitsteilung nach europäischem Verständnis ihr Ende findet: Das Delegieren der Verteidigungsverantwortung an die USA, das Übertragen der Energiebereitstellung an Russland und die Verlagerung der Produktion nach China – das ist in der neuen Weltordnung nicht mehr aufrechtzuhalten.
Zweitens offenbart sich der von Europa hochgehaltene Multilateralismus zunehmend mehr als Fassade, denn als Wirklichkeit. Die Verschiebung von Interessen hat nicht erst mit Donald Trump begonnen: Schon Barack Obama initiierte die pazifische Wende, «America First» legte schliesslich nur noch die Axt an alte partnerschaftliche Rhetorik.
Seither mehren sich die geo- und wirtschaftspolitische Rückorientierung nach Innen, der Hang zum Markieren von Stärke nimmt stetig zu und die nationalstaatlichen Interessen rücken immer deutlicher in den Fokus politischen Handelns. In der Folge verliert Europa nicht nur an – sowie schon überschaubaren – Einfluss, sondern büsst auch die Fähigkeit ein, Spielregeln zu setzen oder gar zu verteidigen.
Neue Realitäten für die Schweiz…
Gerade mittelgrosse Staaten wie die Schweiz – von einem Kleinstaat kann mit Blick auf die Wirtschaftskraft und die Bevölkerung schon lange nicht mehr gesprochen werden – spüren den Gegenwind in der neuen Weltordnung besonders. Ähnlich wie die europäischen Firmen, werden Schweizer Exporteure zu einem Spielball der amerikanischen Zollpolitik. Ob ein stärkeres Anschmiegen an die EU hier einen Ausweg bietet, ist zumindest fraglich. Denn wie Europa durch den dominanten Pausenhof-Rowdy USA drangsaliert wird, neigt auch EU im Umgang mit der Schweiz nicht eben zur Zimperlichkeit. Börsenäquivalenz, Horizon Europe oder gezielten Diskriminierungen – in Brüssel ist die Werkzeugkiste politischer Druckmittel, um die kleine Nachbarin zur Nachgiebigkeit zu «motivieren», gross und reichlich bestückt. Was einst als diszipliniert gepflegter Sonderweg galt, ist längst selbst ein Balanceakt im geopolitischen Seiltanz.
Die Welt gleicht somit heute mehr denn je wieder einem Dschungel, in dem Staaten weniger durch Freundschaft als durch Interessen verbunden sind. Clausewitz’ Diktum des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln erhält ständig neue Aktualität. Sowohl in der Ukraine als auch bei der Positionierung von Flugzeugträgerverbänden. Sicherheits- und Wirtschaftspolitik werden untrennbar, die Zwischenräume verschwinden. Die Frage, welchen Platz Prinzipientreue künftig wirklich noch haben wird, erhält immer mehr rhetorischen Charakter.
…wie auch für Anlegerinnen und Anleger
Diese neue Welt macht auch vor den Finanzmärkten nicht halt und beginnt sich immer stärker auch an den Börsen zu spiegeln. Aus Anlegerperspektive gilt es daher, dem – überstrapazierten – Begriff einer «Zeitenwende» Rechnung zu tragen. Die heutigen und zukünftigen Realitäten fordern ein Umdenken und ein stetes Hinterfragen vermeintlich sicherer Gewissheiten. Ist Europa in dieser neuen Weltordnung ein Hort der wirtschaftlichen und politischen Stabilität? Wie kann und wird sich die Schweiz in diesem dschungelhaften Umfeld behaupten? Welche Konsequenzen haben diese und ähnliche Überlegungen für die Ausrichtung des Anlageportfolios? Für die geografische Allokation? Die Währungsrisiken?
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Antworten darauf nicht mathematisch exakt ausfallen werden. Sie adressieren sich jedoch an die Unwägbarkeiten von morgen, die ihre Schatten bereits ins Heute werfen: Politische Risiken, plötzliche Handelsbarrieren und scharfe Brüche in Liefer- und Wertschöpfungsketten sind nicht mehr planbare Ausnahmen, sondern mausern sich zum neuen Normal. Eine robuste Anlagestrategie braucht daher künftig grössere Streuung, die gezielte Absicherung gegen geopolitische Verwerfungen und ein tiefes Verständnis für strukturelle Schwächen der klassischen Industriestaaten Europas. Ob dies nun mannigfaltige Abhängigkeiten, technologische Rückstände oder regulatorische Überforderungen seien.
Ja, die Welt ist rauer geworden. Die Zeit der Freunde und Verbündeten geht, die Epoche der immer kompromissloseren Interessenpolitik kehrt zurück. Europa und auch die Schweiz müssen baldmöglichst eine Antwort darauf finden, wie sie im Dickicht der neuen Weltordnung Bestand haben können.

