Rückläufige Inflation, Konjunkturflaute und dazu ein eskalierender Nahost-Konflikt: Experten gehen davon aus, dass EZB-Präsidentin Christine Lagarde und die anderen Währungshüter angesichts dieser brisanten Mixtur auf ihrer Zinssitzung am Donnerstag in Athen eine Zinspause beschliessen werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat seit Sommer 2022 im Kampf gegen die starke Teuerung die Schlüsselsätze bereits zehn Mal in Serie um zusammen 4,50 Prozentpunkte erhöht. Die meisten Volkswirte gehen davon aus, dass mit einem Einlagensatz von nunmehr 4,00 Prozent, den Banken erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, vorerst der Zinsgipfel erreicht ist. Dieser Satz gilt als der massgebliche Zins an den Finanzmärkten.

"Die EZB dürfte auf Basis des jüngsten Inflationsrückgangs in der Euro-Zone keine weitere Leitzinsanhebung mehr beschliessen", meint etwa Robert Greil, Chefstratege des Bankhauses Merck Finck. Die Teuerung im Euroraum war zuletzt im September auf 4,3 Prozent gefallen von 5,2 Prozent im August. Im Herbst 2022 hatte sie noch bei über zehn Prozent gelegen. Und den jüngsten Daten zufolge weist der Trend weiter nach unten: So fallen in Deutschland, der grössten Volkswirtschaft in der Währungsgemeinschaft, die Erzeugerpreise mittlerweile im Rekordtempo. "Wir rechnen mit einer mehrmonatigen Zinspause der EZB, bevor in etwa Mitte nächsten Jahres eine erste Leitzinssenkung wahrscheinlich erscheint", meint Greil. In der jüngsten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters rechnete keiner der befragten 85 Ökonomen mit einer weiteren Zinsanhebung bis Ende 2023.

Für die Chefvolkswirtin der staatlichen Förderbank KfW, Fritzi Köhler-Geib, ist das Zinsniveau inzwischen ausreichend restriktiv - das heisst konjunkturbremsend - um eine Rückkehr zur Preisstabilität zu ermöglichen. Die EZB strebt mittelfristig zwei Prozent Inflation als Idealwert für die Wirtschaft an. "Aufwärtsrisiken für die Inflation bestehen jedoch fort und sind durch die schrecklichen Ereignisse im Nahen Osten gestiegen", meint die Ökonomin. Merck-Finck-Experte Greil hat die Energiepreise im Blick. "Die EZB dürfte angesichts der zunehmenden Unsicherheit gerade in Sachen Energiepreise infolge des Nahost-Konflikts die Bedeutung der eingehenden Daten, die zunehmend für eine Rezession sprechen, betonen," erklärte er.

ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski rechnet mit einer weiteren Eintrübung der Konjunktur bis zur Dezember-Sitzung der EZB, was aus seiner Sicht gegen eine erneute Zinsanhebung spricht. Doch für ihn ist die Möglichkeit einer Erhöhung nicht ganz vom Tisch. "Angesichts des jüngsten Ölpreisanstiegs und folglich einer Aufwärtskorrektur des Inflationspfads in der Euro-Zone für 2024 können wir allerdings nicht völlig ausschliessen, dass die EZB sich im Dezember noch für eine weitere Zinserhöhung entscheiden wird", meint der Experte.

Zinsschritte nur bei neuen Projektionen

Die Volkswirte der US-Bank Morgan Stanley gehen davon aus, dass die Euro-Hüter Zinsschritte bis auf weiteres nur noch auf solchen Sitzungen ins Auge fassen, auf denen die EZB-Volkswirte neue Konjunkturprojektionen vorlegen. Das ist das nächste Mal im Dezember und dann erst wieder im März 2024 der Fall. Die Zentralbank könnte aber aus ihrer Sicht auf der Sitzung am Donnerstag über einen vorzeitigen Stopp der Anleihenkäufe in ihrem Pandemie-Anleihenkaufprogramm PEPP beraten. "Da dies die erste offizielle Diskussion über das PEPP ist und das Thema kompliziert ist, erwarten wir keine Entscheidung im Oktober", schreiben die Ökonomen in ihrer EZB-Vorschau.

Mit dem Kaufprogramm PEPP wollten die Währungshüter die Finanzierungsbedingungen für Staaten, Unternehmen und Haushalte während der Corona-Pandemie günstig halten. Doch diese ist inzwischen abgeklungen. Auslaufende Anleihen aus dem Programm werden jedoch immer noch vollumfänglich ersetzt. Bislang sollen diese PEPP-Reinvestitionen bis mindestens Ende 2024 fortgesetzt werden. Doch die Morgan-Stanley-Experten halten es für möglich, dass die EZB bereits im ersten Quartal 2024 damit beginnt, die Käufe langsam ausklingen zu lassen.

Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer rückt bei der EZB auch das Thema Mindestreserven, die Geschäftsbanken auf einem Konto bei ihrer nationalen Notenbank halten müssen, in den Blickpunkt. "Auf Sicht der kommenden Monate können wir uns vorstellen, dass die Notenbanker den Mindestreservesatz von ein Prozent auf zwei Prozent anheben werden, um weniger Zinsen an die Geschäftsbanken zahlen zu müssen", meint Krämer. Aktuell liegt die Mindestreserveanforderung bei einem Prozent der Kundeneinlagen eines Geldhauses. Insidern zufolge planen Währungshüter zufolge im kommenden Frühjahr einen erneuten Vorstoss, um die Zinszahlungen an Geschäftsbanken zu senken.

(Reuters)