Als Shanghai im Juni von einer extremen Hitzewelle heimgesucht wird, verlegt die Autofabrik, in der Mike Chen arbeitet, die Produktion in die Nacht und stellt die Klimaanlage ab. Für Chen, der in seiner schweissnassen Arbeitskleidung bis in die frühen Morgenstunden schuftet, ist dies ein weiterer Schlag ins Gesicht. Denn in diesem Jahr haben Kürzungen bei Prämien und Überstunden seinen Monatslohn bereits auf kaum mehr als ein Drittel dessen reduziert, was er einst bei seiner Einstellung 2016 verdiente.
«SAIC-VW war einmal der beste Arbeitgeber und es war eine Ehre für mich, hier zu arbeiten», sagt der 32-Jährige, der bei dem Gemeinschaftsunternehmen von VW und dem chinesischen Staatskonzern SAIC beschäftigt ist. «Jetzt bin ich nur noch wütend und traurig.»
Mit seinem Frust ist er nicht alleine. Millionen von Arbeitern in der chinesischen Autobranche spüren den Druck, weil der von Tesla ausgelöste Preiskrieg bei Elektroautos die Hersteller zu Kostensenkungen zwingt. Interviews mit zehn Führungskräften von Autoherstellern und Zulieferern sowie sieben Fabrikarbeitern zeigen eine Branche, in der überall gespart wird - von Komponenten über Stromrechnungen bis hin zu Löhnen.
Lohndumping im gesamten Sektor
Gehaltskürzungen sind in China zwar verboten, aber komplexe Lohnstrukturen bieten Möglichkeiten, dies zu umgehen. So konnte SAIC-VW etwa das Nettogehalt von Mike Chen senken, indem die Firma die Arbeitszeiten reduzierte und Prämien kürzte, ohne am Grundgehalt zu rütteln. Dieses deckt in der Regel bis zur Hälfte der Vergütung ab, die ein Arbeitnehmer zum Eintritt erhält. Nach Angaben von VW variiert die Bezahlung in dem Joint Venture je nach Arbeitszeit und Prämie. Das Unternehmen betont, dass die Herstellung von Autos in der Nacht die Stromnetze entlaste. Gute Arbeitsbedingungen hätten Priorität. SAIC nahm dazu keine Stellung.
Andere Konzerne verfahren ähnlich und können bei Bedarf die Löhne kürzen: So schrieb der Elektroautohersteller BYD etwa im August eine Stelle in seinem Werk in Shenzhen mit einem geschätzten Monatseinkommen von 5000 bis 7000 Yuan aus, allerdings betrug das Grundgehalt nur 2360 Yuan (300 Euro). Der durchschnittliche chinesische Monatslohn lag im Juni nach Angaben der Regierung bei 11.300 Yuan. Die Stundenlöhne in der Autobranche reichen von 14 bis 31 Yuan (1,78 bis 3,95 Euro), wie eine Reuters-Analyse der geschätzten Einkommen in den jüngsten Stellenanzeigen von 30 Autofirmen ergab. Am oberen Ende lagen dabei SAIC-GM, Li Auto, Tesla und Xpeng.
Der harte Wettbewerb im Markt für E-Autos drückt nicht nur die Verkaufspreise dieser Fahrzeuge, sondern wirkt sich auch auf die zahlreichen Zulieferer aus. Normalerweise verhandelten die Zulieferer einmal im Jahr über die Preise, aber viele seien gedrängt worden, die Preise 2023 auf vierteljährlicher Basis zu senken, sagen zwei leitende Angestellte von Zulieferern. Bevor Tesla den Preiskrieg entfachte, schickte das Unternehmen E-Mails an seine direkten Zulieferer und forderte diese auf, die Kosten in diesem Jahr um zehn Prozent zu senken, wie Reuters von einer mit der Sache vertrauten Person erfuhr.
Mehrere Autohersteller, darunter die japanischen Anbieter Mitsubishi und Toyota, haben in China Tausende Beschäftigte entlassen, nachdem ihr Absatz einbrach. Andere, wie Tesla und der chinesische Batterieanbieter CATL, haben die Einstellung von Mitarbeitern gedrosselt, weil sie ihre Wachstumspläne verschoben haben. Der südkoreanische Autobauer Hyundai und sein chinesischer Partner versuchen derweil, ein Werk in der Millionenmetropole Chongqing zu verkaufen.
«Die guten alten Zeiten sind vorbei»
Nach Angaben der chinesischen Staatsmedien beschäftigen die Autobauer und ihre Zulieferer schätzungsweise 30 Millionen Menschen in der Volksrepublik. Lohnkürzungen und Entlassungen wirken sich entsprechend auf den Lebensstandard eines erheblichen Teils der Bevölkerung aus. Wirtschaftsexperten warnen davor, dass Chinas Automobilsektor aufgrund der Folgen des Preiskriegs sogar zu einem Hemmschuh für das gesamte Wirtschaftswachstum werden könnte. Für die grösste Autoindustrie der Welt wäre das eine Zäsur. Die Produktionskapazitäten seien zwar mit enormen und teils von staatlicher Hand unterstützter Investitionen ausgeweitet worden, die Inlandsnachfrage nach Autos stagniere jedoch.
Während die Exporte in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 zwar um 81 Prozent zulegten, stiegen die Inlandsverkäufe nur um 1,7 Prozent - trotz Preissenkungen. Bei Elektroautos und Hybriden schrumpften die durchschnittlichen Verkaufspreise von Januar bis Juni um 15 Prozent, die Auslastung der Autofabriken insgesamt ging deutlich zurück.
«Die guten alten Zeiten sind vorbei», sagt Autoarbeiter Liu. Der 35-Jährige kündigte nach eigenen Angaben im Juli beim chinesischen Hersteller Changan Automobile, nachdem er im Mai und Juni jeweils 4000 Yuan statt der erwarteten 7000 Yuan pro Monat verdiente. Auf Anfrage erklärte der Konzern, dass Arbeitszeiten und Bezahlung von Arbeiter zu Arbeiter variierten. Während Liu weiter nach einer neuen Tätigkeit in der Automobilindustrie sucht, schwindet sein Vertrauen in die Branche. Über einen Arbeitsvermittler hätte er beinahe eine Stelle in der östlichen Hafenstadt Qingdao bekommen, weigerte sich aber, dafür eine Provision von 32.000 Yuan zu zahlen. «Vielleicht wäre ich als Sicherheitsmitarbeiter in einem Bürogebäude besser dran.»
(Reuters)