Der Bundesrat hat am Mittwoch festgelegt, aufgrund von welchen Schwellenwerten und Indikatoren die Schweiz Schutzmassnahmen treffen könnte. Nachfolgend Fragen und Antworten zur Schutzklausel:

WAS IST NEU AN DER SCHUTZKLAUSEL?

Neu kann die Schweiz eigenständig Massnahmen ergreifen, um die Zuwanderung aus der EU einzuschränken, wenn sie auf ihrem Gebiet schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme feststellt. Im Gegensatz zur Schutzklausel im heutigen Abkommen über den freien Personenverkehr habe die Schweiz diese Möglichkeit nun, ohne ihren Zugang zum EU-Binnenmarkt aufs Spiel zu setzen, sagt Justizminister Beat Jans in Bern vor den Medien. «Wir geben uns ein griffiges Instrument in die Hand, ohne dass wir den bilateralen Weg gefährden.» Daher sei die Schutzklausel ein Argument gegen die Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» der SVP.

WANN WIRD DIE SCHUTZKLAUSEL GEPRÜFT?

Der Bundesrat muss die Aktivierung der Schutzklausel prüfen, wenn einer von vier Schwellenwerten überschritten wird. Es sind die Nettozuwanderung aus der EU, die Zahl der neuen Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Zunahme der Arbeitslosigkeit oder die Sozialhilfequote. Wird einer dieser Werte landesweit überschritten, muss der Bundesrat handeln.

WAS IST MIT DEN SCHWELLENWERTEN GEMEINT?

Bei den Schwellenwerten handelt es sich nicht um absolute, sondern um relative Werte, wie Staatssekretär Vincenzo Mascioli sagte. Sprich, es geht um eine Veränderung im Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt. Die Werte werden in einer Verordnung festgelegt. Der Erlass von Verordnungen liegt in der Kompetenz des Bundesrats.

WURDEN KONKRETE ZAHLEN GENANNT?

Ja. Die Botschaft zur vorgeschlagenen Umsetzung der Schutzklausel beinhalte konkrete Zahlen, die als Beispiel dienten, betonte Mascioli. Beispielsweise bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Schweiz um 30 Prozent oder um 12 Prozent bei der Sozialhilfe, müsse der Bundesrat die Anwendung der Schutzklausel prüfen. Beim Schwellenwert zur Beschäftigung von Grenzgängern werde eine veränderte Grenzgängerrate von 0,34 Prozent vorgeschlagen. Die Rate wird gemessen an der Veränderung des Grenzgängerbestandes im Verhältnis zur Anzahl der Beschäftigten. Bei der Nettozuwanderung aus der EU betrage der Schwellenwert 0,74 Prozent. Dabei geht es um eine Zunahme der Nettomigration gemessen an der ständigen Wohnbevölkerung.

WÄREN DIE SCHWELLENWERTE BEREITS EINMAL ÜBERTROFFEN WORDEN?

Ja, seit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU im Jahr 2002 wären die Schwellenwerte bereits achtmal überschritten worden. In den Jahren 2002, 2003, 2009 und 2020 aufgrund des Schwellenwerts bei der Arbeitslosigkeit, 2008 und 2013 aufgrund der Nettozuwanderung sowie 2011 und 2022 aufgrund der stark angestiegenen Grenzgängerrate. Bei der Sozialhilfequote wäre der Schwellenwert noch nie erreicht worden.

WAS IST MIT DEN INDIKATOREN GEMEINT?

Bei den Indikatoren handelt es sich um Messwerte, welche der Bundesrat einbeziehen kann, um die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen. Mascioli nannte als Indikatoren Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit, Wohnungswesen und Verkehr. Konkret könne der Bundesrat handeln, wenn der Bestand an Leerwohnungen stark sinken oder Staustunden massiv zunehmen würden.

WIE WIRD DIE KLAUSEL AKTIVIERT?

Will die Schweiz zur Schutzklausel greifen, muss sie an den Gemischten Ausschuss Schweiz-EU gelangen. Gibt es keine Einigung, kann sie sich ans Schiedsgericht wenden, und dieses untersucht, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der Klausel gegeben sind. Ist das der Fall, kann die Schweiz die Personenfreizügigkeit einschränken. Führt das zu einem Ungleichgewicht, kann die EU verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen treffen, aber nur im Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr. Sie könnte zum Beispiel die Zuwanderung von Schweizerinnen und Schweizer begrenzen.

UND WENN ES KEINE EINIGUNG GIBT?

Das Schiedsgericht muss innerhalb von sechs Monaten entscheiden, ob die Anwendung der Schutzklausel gerechtfertigt ist oder nicht. Die Schweiz kann allerdings auch ohne Zustimmung des Schiedsgerichts Schutzmassnahmen treffen. In diesem Fall könnte aber Brüssel ein Schiedsgerichtsverfahren eröffnen und Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese könnten neben dem Personenverkehr noch andere Binnenmarktabkommen betreffen. Ausgenommen wäre die Landwirtschaft.

SIND AUCH REGIONALE MASSNAHMEN MÖGLICH?

Ja. Auch Kantone können beantragen, auf die Klausel zurückzugreifen, wenn sie auf ihrem Gebiet schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme wegen der Zuwanderung aus der EU sehen. In solchen Fällen sind regionale Massnahmen möglich. Die Schwellenwerte zur Netto-Zuwanderung aus der EU, zur Arbeitslosigkeit, zur Beschäftigung von Grenzgängern und zur Sozialhilfequote beziehen sich zwar auf das ganze Land. Laut Staatssekretär Vincenzo Mascioli ist aber davon auszugehen, dass gerade die Grenzgänger-Zahlen stark von den Grenzkantonen geprägt werden. Die Chance bestehe also, dass die Grenzwerte erreicht würden.

WAS KÖNNTEN SCHUTZMASSNAHMEN DER SCHWEIZ SEIN?

Es gäbe verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel könnte es vorübergehend Höchstzahlen für die Zuwanderung aus der EU geben, ähnlich wie es heute bei Drittstaaten der Fall ist. Weitere Möglichkeiten wären ein Inländervorrang bei Stellenbesetzungen, aber auch zeitlich beschränkte Aufenthaltsrechte für EU-Bürgerinnen und -Bürger, die ihre Schweizer Arbeitsstelle verlieren oder die in die Schweiz kommen, um einen Job zu suchen. Solche Massnahmen könnten für die gesamte Schweiz oder einzelne Kantone vorgeschlagen werden.

WIRD DER BUNDESRAT DIE KLAUSEL JE AKTIVIEREN?

Justizminister Beat Jans nennt die Schutzklausel das letzte Mittel, um mit der Zuwanderung verbundene Probleme anzugehen. Der Bundesrat habe bei den Verhandlungen mit Brüssel die Schutzklausel eingefordert, und die Delegation sei mit einem positivem Resultat zurückgekommen, sagt Justizminister Beat Jans. Er gehe deshalb davon aus, dass der Bundesrat auch bereit sein werde, bei Bedarf auf die Klausel zurückzugreifen. Er stellte aber klar, dass die Schweiz weiterhin auf Arbeitskräfte aus der EU angewiesen sein wird, unter anderem weil hierzulande geburtenstarke Jahrgänge in Pension gehen.

WIE GEHT ES NUN WEITER?

Die Schutzklausel will vom Bundesrat zusammen mit dem ganzen EU-Vertragspaket im Juni in eine Vernehmlassung geben. Im kommenden Frühjahr will die Regierung die Vorlage dem Parlament übergeben, sodass dieses dann darüber entscheiden kann.

(AWP)