Die schwerste Energiekrise seit Jahrzehnten steht erst am Anfang. Nach diesem Winter wird die Europäische Union die Gasreserven ohne oder mit nur geringen Lieferungen aus Russland wieder auffüllen müssen, was den Wettbewerb um Flüssiggas (LNG) verschärft.

Selbst wenn mehr Anlagen für die Einfuhr von LNG in Betrieb genommen werden, dürfte der Markt bis 2026 angespannt bleiben, wenn zusätzliche Produktionskapazitäten von den USA bis Katar verfügbar werden. Es wird daher keine Entwarnung bei den hohen Preisen geben.

Unterstützung von Betrieben und Verbrauchern

Nach Angaben der Brüsseler Denkfabrik Bruegel haben die Mitgliedsstaaten der EU Betrieben und Verbrauchern zwar mit mehr als 700 Milliarden Euro beigestanden, um einen Grossteil der Folgen abzufedern, aber der Ausnahmezustand könnte noch Jahre dauern. Da die Zinsen steigen und die Volkswirtschaften sich wahrscheinlich bereits in einer Rezession befinden, scheint diese Subventionierung immer unbezahlbarer zu werden.

"Wenn man alles zusammenzählt - Rettungsaktionen, Subventionen - ist das eine gigantische Summe", sagte Martin Devenish, Direktor der Beratungsfirma S-RM. "Es wird für die Regierungen im nächsten Jahr sehr viel schwieriger werden, diese Krise zu bewältigen."

Verschuldung der EU-Mitgliedsstaaten

Der finanzielle Spielraum ist bereits strapaziert. Etwa die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten ist mit mehr als der von der EU festgelegten Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet.

Die von Bloomberg auf der Grundlage von Marktdaten errechnete Summe von fast 1 Billion Euro ist eine grobe Schätzung der höheren Energiekosten für Verbraucher und Betriebe, die zum Teil, aber nicht vollständig, durch Hilfspakete ausgeglichen wurden. Die Schätzung von Bruegel beruht auf Annahmen für die Gasnachfrage und gestiegene Preise.

Auffüllen der Gasspeicher

Der Wettlauf zum Auffüllen der Gasspeicher im letzten Sommer, trotz der Beinahe-Rekordpreise, hat die Versorgungsengpässe vorerst gemildert, aber das jüngst eisige Wetter stellt das europäische Energiesystem in diesem Winter auf eine erste echte Probe. Vorletzte Woche warnte die Bundesnetzagentur, dass nicht genug Gas eingespart werde.

Den EU-Staaten ist es in diesem Jahr unter anderem mit Appellen gelungen, die Nachfrage um 50 Milliarden Kubikmeter zu drosseln, doch nach Angaben der Internationalen Energieagentur droht der Region im Jahr 2023 immer noch eine Lücke von 27 Milliarden Kubikmetern. Dabei wird davon ausgegangen, dass die russischen Lieferungen auf Null sinken und die chinesischen LNG-Importe wieder das Niveau von 2021 erreichen.

"Gas zu bekommen ist eine absolute Notwendigkeit, und wir werden wahrscheinlich eine weit verbreitete Hortung in Europa sehen", sagte Bjarne Schieldrop, leitender Rohstoffanalyst bei der SEB, und sagte einen "Verkäufermarkt" für mindestens die nächsten 12 Monate voraus. "Der Wettlauf um die Auffüllung der EU-Erdgasvorräte" vor dem nächsten Winter habe begonnen.

Die beschädigte Gaspipeline Nord Stream

Die wichtigste Gaspipeline von Russland nach Westeuropa war Nord Stream, die im September durch einen Sabotageakt beschädigt wurde. Die Region erhält immer noch russisches Pipelinegas über die Ukraine, aber der schwere Beschuss der Energieinfrastruktur durch den Kreml gefährdet diese Route. Ohne diese Gasleitung wird es sehr schwierig werden, die Speicher wieder aufzufüllen.

Um eine Versorgungslücke zu vermeiden, hat die Europäische Kommission Mindestvorgaben für die Bevorratung festgelegt. Bis zum 1. Februar sollten die Speicher zu mindestens 45Prozent gefüllt sein, um eine Entleerung bis zum Ende der Heizperiode zu vermeiden. Bei einem milden Winter sollen die Vorräte bis dahin bei 55 Prozent liegen.

Gas Importe aus Übersee

Europas LNG-Importe haben inzwischen ein Rekordniveau erreicht. Deutschland nimmt neue schwimmende Terminals in Betrieb, um den Brennstoff in das Pipeline-Netz einzuspeisen. Die staatliche Förderung der Beschaffung hat geholfen, aber kälteres Wetter in Asien und das Ende der Zero-Covid-Politik in China könnte den Wettbewerb mit Käufern aus Asien wieder verschärfen und Preise hochtreiben. Nach Angaben des Energy Economics Institute der China National Offshore Oil werden die chinesischen Gasimporte im Jahr 2023 voraussichtlich 7Prozent höher liegen als in diesem Jahr.

Die europäischen Gas-Terminkontrakte lagen in diesem Jahr im Durchschnitt bei 135 Euro je Megawattstunde, nachdem sie im Juli mit 345 Euro ihren Höchststand erreicht hatten. Wenn die Preise wieder auf 210 Euro steigen, könnten die Importkosten 5Prozent des BIP erreichen, so Jamie Rush, Chefökonom für Europa bei Bloomberg Economics. Dies könnte dazu führen, dass sich die prognostizierte leichte Rezession zu einem tiefen Abschwung ausweitet, und die Regierungen würden als Reaktion darauf wahrscheinlich ihre Programme zurückfahren müssen.

Auswirkungen der Massnahmen

"Die Art der Unterstützungsmassnahmen wird sich von einem akuten, allumfassenden Ansatz zu gezielteren Massnahmen wandeln", sagte Piet Christiansen, Chefstratege der Danske Bank. "Die Zahlen werden kleiner sein - aber die Massnahmen werden während dieses Übergangs weiter zur Verfügung stehen."

Für Länder wie Deutschland, die bei der Herstellung von Produkten wie Autos und Chemikalien auf bezahlbare Energie angewiesen sind, bedeuten hohe Kosten einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China. Das setzt die Bundesregierung unter Druck, die Wirtschaft weiterhin zu unterstützen.

"Angesichts der potenziell enormen politischen und sozialen Auswirkungen der Energiepreisexplosion und des Schocks für das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist es wichtig, dass die Bundesregierung eingreift", so Isabella Weber, Ökonomin an der University of Massachusetts Amherst, die als Erfinderin der deutschen Gaspreisbremse gilt.

Die Herausforderung besteht darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Betrieb von Fabriken und der Beheizung von Häusern auf kurze Sicht - ohne dabei Anreize für Investitionen in erneuerbare Energien abzuwürgen.

"Die grösste Aufgabe, die sich aus der Krise ergibt, ist die Umsetzung der Energiewende", sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. "Wir müssen die erneuerbaren Energien massiv ausbauen."

(Bloomberg)