In seiner Abwesenheit hat die Inflation in der Eurozone zweistellige Werte erreicht und erst im vergangenen Monat kletterte die Kerninflation, aus der volatile Komponenten wie Energie herausgerechnet sind, auf einen Rekordwert von 5,6 Prozent.

Issing, dessen Bibliothek Bücher umfasst wie "Die Inflation von 1923" des Autors Frank Stocker, sieht hinter dem aktuellen Preisschock mehr als nur einen durch den Krieg in der Ukraine verursachten Energiepreisschub — eine Sicht der Dinge, mit der sich seine Nachfolger in Frankfurt nur ungern auseinandersetzen.

"Die Inflation war bereits im Gange, bevor sie durch den Krieg verschärft wurde", sagte Issing im Bloomberg-Interview. "Ich habe nie verstanden, warum die EZB so lange ignoriert hat, dass die Inflation steigt."

Die ausser Kontrolle geratene Teuerung — das Ziel der Zentralbank beträgt 2 Prozent — hat die Hüter der Geldwertstabilität gezwungen, weitere aggressive Zinserhöhungen zu versprechen, selbst nach 300 Basispunkten an Straffung seit Juli. In den letzten Tagen zeigten die Wetten der Marktteilnehmer zum ersten Mal die Erwartung, dass der Einlagensatz der EZB 4 Prozent erreichen wird.

"Frühzeitiges Handeln ist der beste Ansatz", erklärte der 86-jährige Professor, der auf eine 16 Jahre währende Karriere als Zentralbanker zurückschaut. "Die EZB hat das weit verfehlt."

Issing erwartet Lohnsteigerungen

Der Ex-Bundesbanker sieht bereits den Druck, der sich gerade in der Preis-Pipeline aufbaut. "Ich erwarte, dass wir Lohnsteigerungen erleben werden, die neue Inflationsschocks auslösen", so Issing.

Der Franke ist die Inkarnation des geldpolitischen Erz-Falken, einer Wesensart, die unter Präsidentin Christine Lagarde und ihrem jetzigen Chefvolkswirt Philip Lane in der EZB nurmehr selten anzutreffen ist. Sein geldpolitisches Vermächtnis — das Zwei-Säulen-Konzept der monetären und wirtschaftlichen Analyse — wurde vor einigen Jahren im Rahmen einer Strategieüberprüfung geändert.

Jenseits des schiefen EZB-Turms am Frankfurter Osthafen hallt Issings Ruf noch nach — etwa Ende 2021, als der neu ernannte Chefvolkswirt der Bank of England, Huw Pill, der nach Issings Weggang in der Forschungsabteilung der EZB tätig war, gegenüber der Financial Times erklärte, er sei "ziemlich stolz" darauf, als Gefolgsmann von Otmar Issing bezeichnet zu werden.

Issing als häufiger Kritiker der EZB

Als häufiger Kritiker der EZB in den letzten Jahren, insbesondere unter der Führung von Mario Draghi während des letzten Jahrzehnts, gibt es vieles in der Politik der Institution, das Issing anders gemacht hätte.

Zum einen ist Forward Guidance — der Versuch, die Markterwartungen durch Zusagen über die künftige Politik zu lenken, zum Beispiel die Zinsen nicht zu erhöhen — nicht sein Ding. "Man gibt eine Orientierung, aber keine Details", sagte Issing. "Die Märkte neigen dazu, bedingte Aussagen als unbedingte zu verstehen."

Die quantitative Lockerung, ein weiteres Aushängeschild der Draghi-Jahre, hat seiner Meinung nach sowohl ihre Vorzüge als auch ihre Grenzen gezeigt. "QE hat zu Beginn recht gut funktioniert, aber wenn wir dann in weitere Phasen übergehen, gibt es wenig oder gar keine Auswirkungen", so Issing. "Die negativen Nebeneffekte werden dominieren."

Ein Ergebnis sei, dass die Zentralbanken mit Staatsanleihen "überladen" und eine Schrumpfung der Bilanzen — ein Prozess, mit dem die EZB gerade erst begonnen hat — zu einer "dringenden Notwendigkeit" werde. Ein Rückgriff auf das Instrument wäre bei einer erneuten Staatsschuldenkrise wohl kaum möglich. "Es ist schwer vorstellbar, dass eine neue Runde von QE auf dem derzeitigen Niveau beginnen könnte", bemerkte Issing.

Der Gallische Krieg

Der im neunten Lebensjahrzehnt stehende Issing wirkt wie ein jüngerer Mann, angetrieben von seiner Liebe zur akademischen Forschung. Er liest gerade Julius Cäsars "Der Gallische Krieg" — mit einer deutschen Übersetzung zur Hand, falls sein Latein einmal etwas rostig ist.

Wenn er auf sein langes Leben zurückblickt, erinnert sich Issing daran, dass er in derselben Stadt aufgewachsen ist, in der er jetzt lebt, in den sanften fränkischen Hügeln, zu einer Zeit, als seine Heimatstadt durch die Brandbomben der Alliierten in Schutt und Asche gelegt worden war.

Irgendwie schaffte es Würzburg, wieder aufzublühen. Auch die Gründung der EZB und ihre Existenz als eine Institution, in der alle europäischen Sprachen gesprochen werden, erscheint ihm wie ein kleines Wunder, wenn er an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zurückdenkt.

Fast ein Vierteljahrhundert, nachdem er einer der ersten Hüter des Euro wurde, denkt Issing nicht nur an Inflation, sondern auch an die Zukunft. Er sieht die Integrität der gemeinsamen Währung immer noch anfällig für die Launen der Regierungen, die bereit sind, die Stabilitätsregeln der Währungsunion zu verletzen.

"Die Währungsunion kann nicht überleben, wenn nicht in allen Mitgliedsländern eine verantwortungsvolle Finanzpolitik betrieben wird", so Issing.

(Bloomberg)