Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, sieht Anzeichen dafür, dass die in Teilen rechtsextremistische AfD ihre «Westwanderung» beschleunigen und sich in der Wählerschaft in NRW «flächendeckend verankern» kann. Die Partei selbst sieht sich im Aufwind.
Zuwächse für die AfD werden erwartet
«Vor allem in strukturschwachen Regionen mit industriellem Niedergang - wie Gelsenkirchen oder Duisburg - hat die AfD gute Chancen, ihre Ergebnisse auszubauen und sich dauerhaft zu verankern», sagt Politikwissenschaftler Oliver Lembcke von der Uni Bochum. Die AfD sei für viele «ein Resonanzraum für Enttäuschung und Wut über eine Politik, die als untätig gegenüber lokalen Problemen wahrgenommen wird - besonders im Bereich Integration».
Erneute AfD-Erfolge vor allem in Gelsenkirchen und Duisburg?
Im Februar landete die AfD bei der Bundestagswahl in Gelsenkirchen mit 24,7 Prozent der Zweitstimmen mit hauchdünnem Vorsprung auf Platz eins vor der SPD. Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD), die diesmal nicht mehr antritt, sprach von Gefahren für «das vertrauensvolle und lebensfrohe Miteinander». «Wir sind im Ruhrgebiet ganz vorne mit dabei», glaubt nun Enxhi Seli-Zacharias, Gelsenkirchener AfD-Landtagsabgeordnete.
Auch andernorts im Revier hatte die AfD im Februar zugelegt, war im Wahlkreis Duisburg II mit 24,6 Prozent gerade noch knapp hinter der SPD geblieben. Duisburg hat wie Gelsenkirchen massive Probleme mit Armutsmigration. Immer wieder gibt es Schlagzeilen zu sozial problematischen Verhältnissen rund um die «Weisse Riesen» genannten Hochhäuser. SPD-Oberbürgermeister Sören Link sitzt in der 500.000-Einwohner-Metropole aber relativ fest im Sattel.
Bei der letzten Kommunalwahl 2020 lag die AfD NRW-weit bei gerade mal rund fünf Prozent. Besonders in ländlichen Räumen, in denen sich viele Menschen politisch abgehängt fühlten, werde die Partei wohl zulegen, meint Forscher Lembcke. Auch im Ruhrgebiet werde sie in der Fläche wachsen, in mehr Räten vertreten sein und kommunalpolitisch stark an Gewicht gewinnen. Unter den Wählern, die bei der Bundestagswahl von CDU oder SPD zur AfD abwanderten, seien viele Arbeiter und Angestellte - «ehemalige klassische SPD-Milieus, die heute besonders im Ruhrgebiet die Basis für AfD-Erfolge bilden.»
Was treibt Menschen zur Stimmabgabe für AfD?
Andreas Hövermann vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut rechnet ebenfalls mit Zugewinnen für die AfD. Im Februar habe sie selbst in ihren schwächsten NRW-Wahlkreisen - etwa in Köln II, Münster, Düsseldorf I - ihr Zweitstimmenergebnis verdoppelt. Und er stellt heraus: Auch in weniger urbanen Kreisen - etwa Oberbergischer oder Märkischer Kreis - sei die AfD über 20 Prozent gesprungen.
Die Gründe? Krisen der vergangenen Jahre wie Pandemie oder hohe Inflation sorgten für erhebliche Verunsicherung und politischen Enttäuschungen - und das spielte der Partei laut Hövermann in die Hände. «Das war ein fruchtbarer Boden für die AfD, die mit ihren verbreiteten Untergangsszenarien für den Standort Deutschland Benachteiligungs- und Ungerechtigkeitsgefühle und Abstiegsängste ansprechen und Wut auf Sündenböcke kanalisieren konnte.»
«AfD vertritt nicht die Interessen der Arbeitnehmerschaft»
Hövermann schildert: «Diejenigen, die den Verlust des Arbeitsplatzes infolge von Digitalisierung und Dekarbonisierung fürchten, wählen häufiger AfD, wie unsere Studien zeigen.» Die AfD inszeniere sich zwar als Partei für die Arbeitnehmerschaft, setze sich aber mitnichten für die Interessen von Beschäftigten ein. Im Gegenteil: «Ob beim Thema Lohnsteigerungen, Tarifbindung, soziale Sicherheit oder Arbeitnehmerrechte - die AfD vertritt bei diesen Punkten eine weitgehend neoliberale Politik.»
Die Brandmauer-Frage wird auch die Kommunen treffen
Sollte die AfD deutlich zulegen, werden die Mehrheitsverhältnisse für die Parteien der demokratischen Mitte schwieriger, glaubt Lembcke. «Auf kommunaler Ebene stellt sich dann die bekannte Brandmauer-Frage: Bezieht man die AfD ein, um Mehrheiten zu sichern, oder bilden die übrigen Fraktionen eine geschlossene Abwehrfront, auch über Parteigrenzen hinweg.» Künftig werde kommunale Politik stärker von übergeordneten «Kulturkampfthemen» geprägt sein - bei Fragen der Sozialleistungen oder auch der öffentlichen Sicherheit etwa in Schwimmbädern.
Forsa-Chef Güllner sieht Fehler im Bund und bei Merz
Forsa-Chef Güllner analysiert, CDU und SPD hätten das einst grosse Vertrauen auf lokaler Ebene durch eigenes Verschulden verloren. Und auch Fehler von Kanzler Friedrich Merz (CDU) «machen es der AfD leicht, bei der NRW-Kommunalwahl in den Räten aller Gemeinden und Städte sowie in den Kreistagen stark vertreten zu sein», prognostiziert der Meinungsforscher. Zuletzt hatte Anfang Juli eine Forsa-Umfrage die AfD bei der Wahl in NRW bei 14 Prozent gesehen - das wäre in Plus um 8,9 Punkte.
AfD-Politiker als neuer Rathaus-Chef «wenig wahrscheinlich»
AfD-Kandidaten haben es bei Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen schwer, da sich häufig breite Abwehrallianzen bilden, wie Lembcke unterstreicht. Zudem sei die Partei bisher kaum kommunalpolitisch verwurzelt und könne nur selten mit bekannteren Persönlichkeiten antreten. Er rechnet nicht mit einem AfD-Bürgermeister.
Experte: AfD-Wähler sind weniger radikal als die Partei AfD
Die AfD-Wählerschaft bestehe zu einem Grossteil aus Protestwählern, die deutlich weniger radikal argumentierten als die Partei selbst, sagt Norbert Kersting von der Uni Münster. «Es handelt es sich zum einen um soziale Gruppen mit niedrigem Einkommen, aber auch zunehmend um Mittelschichten, die aufgrund der Wirtschaftskrise sozialen Abstieg befürchten.» Und: «Aufgrund des hohen Engagements in den sozialen Medien und insbesondere auf Tiktok zeigt sich auch eine starke Wählerschaft neuerdings innerhalb der jüngeren Generation.»
In Dortmund - drittgrösste NRW-Stadt - hat die Partei vor allem die Erstwähler in den Blick genommen, berichtet dort AfD-Fraktionschef Heiner Garbe. Man schreibe hier gezielt die rund 26.000 Wähler zwischen 16 und 21 Jahren an.
«Stimmen der AfD bleiben letztlich wertlos»
Die AfD bleibe durch ihre mangelnde Koalitionsfähigkeit aber weitgehend isoliert, ist Lembcke überzeugt. Durch die mangelnde Bündnisfähigkeit fehle der Partei eine wichtige Machtressource. «Ohne sie bleiben die Stimmen für die AfD letztlich wertlos.» Die Partei schwäche das allerdings kaum, denn: «Ohne Gestaltungsverantwortung kann sie zentrale programmatische Fragen offenlassen. Stattdessen lebt sie davon, Missstände zu benennen und die anderen Parteien unter Druck zu setzen.» Eigentlich könne Kommunalpolitik der AfD die Gelegenheit bieten, Pragmatismus zu beweisen. «Doch ein solcher Kurswechsel wäre für die AfD ein Bruch mit ihrer bisherigen Strategie.»/wa/DP/mis
--- Von Yuriko Wahl-Immel und Rolf Schraa, dpa ---
(AWP)