«Das Albtraum-Szenario ist nun Wirklichkeit», sagte ein Sprecher des UN-Menschenrechtsbüros in Genf, Jeremy Laurence, zur Erklärung der Hungersnot. Das israelische Aussenministerium wies den IPC-Bericht zurück: «Es gibt keine Hungersnot in Gaza.»
Der betroffene Bezirk umfasst rund 20 Prozent des Palästinensergebiets. Vor dem Krieg lebten dort Schätzungen zufolge rund 750.000 Menschen. Nach Angaben der IPC-Initiative ist das Leben von 132.000 Kindern unter fünf Jahren wegen Unterernährung bedroht. 41.000 davon würden als besonders bedrohliche Fälle betrachtet, doppelt so viele wie bei der vorherigen Einschätzung im Mai.
«Mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen sind mit katastrophalen Bedingungen konfrontiert, charakterisiert durch Hunger, Armut und Tod», heisst es in dem IPC-Bericht. Weitere gut 70 Prozent der gut zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens können ihren Lebensmittelbedarf auch nicht mehr decken.
Im Bezirk Nordgaza seien die Bedingungen womöglich noch schlimmer, aber mangels Zugangs könne die Lage dort nicht richtig eingeschätzt werden. Die Hungersnot könne sich bis Ende September auch auf weitere Bezirke ausweiten. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es das erste Mal, dass in einem Land des Nahen Ostens eine Hungersnot ausgerufen wird.
«Hätten Hungersnot verhindern können»
«Wir hätten die Hungersnot verhindern können, wenn man uns dies erlaubt hätte», sagte der UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher. «Doch aufgrund systematischer Behinderungen durch Israel stapeln sich Lebensmittel an den Grenzen.» Und weiter: «Es handelt sich um eine Hungersnot, die von einigen israelischen Politikern offen als Kriegswaffe eingesetzt wird.» Israel weist solche Aussagen und Vorwürfe stets zurück. Das Land wirft wiederum den UN vor, im Gazastreifen bereitstehende Hilfslieferungen nicht verteilt zu haben.
Die Einschätzung der IPC-Initiative basiere auf falschen Angaben der Hamas, teilte Israels Aussenministerium mit. Die für Palästinenserangelegenheiten zuständige israelische Behörde Cogat sagte: «Der Bericht ignoriert bewusst Daten, die den Autoren in einem Treffen vor seiner Veröffentlichung vorgelegt wurden und übersieht die in den letzten Wochen unternommenen Bemühungen zur Stabilisierung der humanitären Lage im Gazastreifen völlig.» Welche Angaben den Autoren vorgelegt wurden, blieb offen. Israel wirft der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen und bewaffneten Banden vor, Essen zu horten und der Zivilbevölkerung vorzuenthalten.
Deutschland hat sich im August an Luftbrücken beteiligt, um Lebensmittel über dem Gazastreifen abzuwerfen. Israel und die USA unterstützen eine neu gegründete Organisation «Gaza Humanitarian Foundation», die - bewacht von bewaffneten Sicherheitskräften - Lebensmittel verteilt. Im Umfeld der wenigen Ausgabestellen sind Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Überlebende sagen überwiegend, israelische Soldaten hätten auf sie geschossen.
Wie Hunger gemessen wird
In der IPC-Skala des Hungers gibt es fünf Stufen der Ernährungslage. Die höchste und schlimmste ist Stufe fünf: «Katastrophe/Hungersnot», die jetzt für den Regierungsbezirk Gaza ausgerufen wurde. Dafür müssen drei Kriterien erfüllt sein: Mindestens 20 Prozent der Haushalte sind von einem extremen Lebensmittelmangel betroffen, mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung und täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit. Alle drei träfen zu, sagte Jean-Martin Bauer vom Welternährungsprogramm (WFP) in einem Briefing für Journalisten in Genf.
Die IPC-Initiative wurde 2004 gegründet. Mitglieder sind knapp zwei Dutzend Organisationen der Vereinten Nationen, sowie Hilfsorganisationen. Sie ist für die Einschätzung von Hungerlagen in aller Welt zuständig. In den vergangenen 15 Jahren wurden nach IPC-Angaben vier Hungersnöte bestätigt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 im Südsudan und zuletzt 2024 im Sudan.
Israels Verteidigungsminister droht mit Zerstörung der Stadt Gaza
Israels Verteidigungsminister Katz verlangte von der Hamas, Israels Bedingungen zur Beendigung des Krieges zu akzeptieren. «Wenn sie nicht zustimmen, wird Gaza, die Hauptstadt der Hamas, zu Rafah und Beit Hanun.» Durch israelische Bombardierungen wurden grosse Teile der besagten beiden Städte in Schutt und Asche gelegt. Zu Israels Forderungen zählen die Freilassung aller aus Israel verschleppten Geiseln sowie die Entwaffnung der Hamas. Letzteres lehnt die Islamistenorganisation ab, über eine vorübergehende Waffenruhe sowie die Rückkehr der Entführten wurde bis zuletzt ohne Erfolg verhandelt.
Einsatzpläne für die Stadt Gaza gebilligt
Laut Katz wurden die Pläne zum Einsatz der israelischen Armee gegen die Hamas in dem grössten Ort des Gazastreifens inzwischen genehmigt. Das Vorhaben beinhalte auch die Umquartierung der Bewohner. Laut Schätzungen betrifft dies rund eine Million Menschen. Die katastrophale Lage der Zivilbevölkerung könnte sich durch die Offensive noch weiter verschlimmern.
Die israelische Zeitung «Jediot Ahronoth» schrieb, anders als in Orten wie Beit Hanun habe die Stadt Gaza viele noch intakte, teils 15-stöckige Hochhäuser. Für Israels Armee besteht dem Bericht zufolge die Gefahr, dass Scharfschützen der Islamisten die Gebäude nutzen könnten. Das Blatt rechnet deshalb damit, dass auch sie dem Erdboden gleichgemacht werden. Für viele Anwohner bedeutet das, dass sie ihr Zuhause verlieren werden.
Einwohner berichteten bereits jetzt von intensiven israelischen Luftangriffen im Umkreis der Stadt. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa meldete mehr als 20 Tote bei israelischen Angriffen in der Stadt. Die Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig verifizieren./oe/DP/he
(AWP)