Die Grosse Kammer des EGMR hat in seinem am Dienstag öffentlich bekannt gegebenen Urteil festgehalten, dass Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, der ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert und darin eingeschlossen ein Recht auf Gesundheit, in Bezug auf die Klimakrise Verpflichtungen für einen Staat mit sich bringe.

Dieser müsse Einzelpersonen vor den Folgen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit und Lebensqualität schützen. Ein Land müsse entsprechende Bestimmungen erlassen und Massnahmen ergreifen.

Die Menschenrechtskonvention müsse so interpretiert und angewendet werden, dass die garantierten Rechte tatsächlich und effektiv umgesetzt würden. Die Staatengemeinschaft habe sich in verschiedenen Abkommen zu Massnahmen zur Reduzierung von Treibhausgasen verpflichtet. Dies bedinge konkrete Regularien und Massnahmen.

Hinsichtlich der Schweiz hat der Gerichtshof dabei Mängel festgestellt. Die Schweizer Behörden hätten es versäumt, die Begrenzung der nationalen Treibhausgasemissionen durch ein Kohlenstoffbudget zu quantifizieren. Ausserdem habe das Land in der Vergangenheit seine Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht.

Zugang zu Gericht

Des Weiteren hat der EGMR eine Verletzung des ersten Absatzes von Artikel 6 festgestellt, in dem die Beurteilung einer Streitigkeit durch ein Gericht garantiert ist. Zwar sehe die von den Klimaseniorinnen angerufene Bestimmung des Verwaltungsverfahrensgesetzes nur den Schutz von individuellen Rechten vor.

Dennoch sei das Nichteintreten des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) auf die Eingabe des Vereins nicht vereinbar mit dem Recht auf Zugang zu einem Gericht.

Die darauf folgenden gerichtlichen Instanzen hätten keine überzeugenden Argumente vorgebracht, warum die Anliegen der Beschwerdeführerinnen nicht inhaltlich hätten behandelt werden müssen.

Fall nicht abgeschlossen

Mit dem Urteil des Gerichtshofes ist der Fall für die Klimaseniorinnen und den Bund noch lange nicht abgeschlossen. Dem Verein steht der Weg offen, am Bundesgericht ein Revisionsverfahren anzustrengen. Dieses wird dazu führen, dass der Fall zur inhaltlichen Behandlung ans Uvek zurückgeht.

Der Bund muss seine Hausaufgaben bei den Klimamassnahmen machen. Der EGMR hat explizit darauf verzichtet, konkrete Massnahmen zu nennen, welche die Verletzung der Menschenrechtskonvention beheben. Aufgrund der Komplexität und Natur der Angelegenheit, liege der Ball bei der Schweiz, assistiert vom Ministerkomitee des Europarats.

Für die weiteren Mitglieder des Europarats ist das Urteil insofern bindend, als dass in Zukunft für gleich liegende Fälle aus anderen Ländern die gleichen Leitlinien gelten.

Gemischte Reaktionen

Die Schweizer Politik nimmt die Verurteilung unterschiedlich auf. Das Recht auf ein gesundes Klima sei ein Grundrecht, hiess es von den Grünen. Der Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen erklärte, die Schweiz tue zu wenig. Die SP verlangte erneut öffentliche Investitionen für die Energie- und Klimawende und kritisierte den Bundesrat für dessen Untätigkeit.

Ganz anders der Tenor bei SVP, Mitte und FDP: Der St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger nannte das EGMR-Urteil «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten. Seine Partei verlangte den Austritt aus dem Europarat.

Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte CO2-Gesetz, das zwar erst nach der Klage der Klimaseniorinnen zur Abstimmung gelangte.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister erklärte, der EMGR verurteile die Regierung eines Landes, die nur tun könne, was die Bevölkerung wolle. Mitte-Nationalrat Philipp Kutter sah eine Steilvorlage für Ängste vor «fremden Richtern».

Bundespräsidentin Viola Amherd zeigte sich überrascht vom Urteil. Sie sei gespannt auf die Detailbegründung. Alain Chablais, der Vertreter des Bundes vor dem EGMR, sagte, die Schweiz müsse handeln.

(AWP)