Die anstehenden neuen Stabsprognosen zur Konjunktur könnten den Ausschlag geben bei der Frage, ob die Geldmärkte mit ihren Wetten auf frühere Zinssenkungen Recht behalten und der Rat unter Präsidentin Christine Lagarde einlenkt.
Angesichts der rapide sinkenden Inflation, der schwachen Konjunktur und der jüngsten Taubensignale der eigentlich im Falkenlager verorteten EZB-Direktorin Isabel Schnabel spekulieren Händler inzwischen bereits auf eine EZB-Zinssenkung im März. Bis Jahresende 2024 sehen sie die Zinsen auf 2,5 Prozent sinken. Letzte Woche hatten Zinsswaps noch mehr als 3 Prozent eingepreist.
Wenn die Märkte richtig liegen, wäre die EZB die erste der grossen Zentralbanken, die die Zinsen senkt — und sie würde den aggressivsten Lockerungszyklus lostreten. In den Wortmeldungen aus dem EZB-Rat ist davon allerdings nichts zu spüren. Berücksichtigen müssen die Notenbanker die veränderten Rahmenbedingungen in Hinblick auf Konjunktur und Preisdynamik freilich.
Die Zwickmühle erinnert an den Dezember 2021, als die US-Notenbank ins Falkenlager schwenkte und die Anleger auf Zinserhöhungen der EZB zu wetten begannen. Die Prognosen zeigten damals eine Beschleunigung der Inflation. Die Zinserhöhungen begannen aber erst sieben Monate später — viel zu spät nach Ansicht der meisten Beobachter.
EZB-Rat vor einem Dilemma
Der EZB-Rat steht mit Blick auf die Zinsentscheidung am 14. Dezember vor einem Dilemma: Die Zinsen zu früh zu senken, könnte die Inflation wieder in die Höhe treiben. Zu lange zuzuwarten, belastet hingegen die schwächelnde Konjunktur.
Anlagestratege Björn Griesbach von der Allianz ist der Meinung, dass die Gefahren bei der Verbraucherpreis-Dynamik viele EZB-Räte noch immer besorgt. «Die Prognosen werden sehr wichtig sein», sagte er. «Eines ist klar: Es muss nach unten gehen. Aber die EZB ist entschlossen, die Inflation nicht ein zweites Mal zu unterschätzen.»
Die am nächsten Donnerstag anstehenden Projektionen sind umfassender als die vom September. Sie beinhalten eine halbjährliche Zusammenstellung von Zahlen der nationalen Zentralbanken, deren Frist für die Bereitstellung von Daten vor einer Woche abgelaufen ist. Der Zeithorizont der Prognosen reicht erstmals bis 2026.
In ihrer letzten Prognose ging die EZB davon aus, dass die Inflation im nächsten Jahr durchschnittlich 3,2 Prozent betragen und in der zweiten Hälfte des Jahres 2025 wieder das 2 Prozent-Ziel erreichen wird. Dieser Ausblick scheint zunehmend überholt, nachdem sich die Teuerung der Verbraucherpreise im November auf 2,4 Prozent verlangsamt hat, den niedrigsten Wert seit Mitte 2021.
Warnung vor einer nochmaligen Beschleunigung der Inflation
EZB-Direktoriumsmitglied Schnabel, die im EZB-Rat zu den Falken gezählt wird, räumte ein, dass der Inflationsrückgang «bemerkenswert» sei und eine weitere Zinserhöhung unwahrscheinlich. Zu den Aussichten auf eine Zinssenkung in der ersten Jahreshälfte indessen wollte sie sich nicht äussern. Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau räumte ein, dass sich diese Frage im Jahr 2024 stellen könnte.
Schnabel und andere warnten derweil davor, dass sich die Inflation noch einmal beschleunigen könnte. Die Märkte wetten dennoch auf frühere und einschneidendere Zinssenkungen.
Die Deutsche Bank prognostizierte am Mittwoch eine Lockerung um 150 Basispunkte im nächsten Jahr und einen ersten Schritt schon im April statt wie zuvor angenommen im Juni. Letzte Woche ging Goldman Sachs dazu über, eine Senkung bereits im April vorherzusagen.
Für Falken wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel bleibt die Gefahr bestehen, dass die Inflation mit voller Wucht zurückkehrt. Er hat wiederholt abgelehnt, sich darauf festzulegen, dass die Zinsen ihren Gipfel erreicht haben. Sein belgischer Kollege Pierre Wunsch erklärte sogar, dass die Zinsen erneut erhöht werden könnten, um die Politik ausreichend restriktiv zu halten.
Einige Ratsmiglieder sagen hinter vorgehaltener Hand, dass das Gesamtbild erst dann klar sein wird, wenn der volle Umfang der Lohnabschlüsse und Haushaltspläne nach dem ersten Quartal bekannt ist. Eine weitere Komplikation besteht darin, dass die EZB auch den Abbau ihrer Bilanz beschleunigen möchte.
(Bloomberg)