In einem offenen Brief im Mai hatten neun europäische Staats- und Regierungschefs - darunter von Dänemark, Italien, Österreich und Polen - den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine Auslegung der EMRK in Migrationsfragen kritisiert, weil sie den Handlungsspielraum der Staaten zu stark einschränke.
Die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR), Beate Rudolf, blickt mit Sorge darauf. «Das ist alarmierend im Rechtsstaat», sagte Rudolf der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Kritik am Gerichtshof dürften die Staaten natürlich äussern, aber nicht durch öffentlichen Druck, sondern indem sie sich an den Gerichtsverfahren beteiligen.
Der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, sagte der BBC, er sei «absolut bereit und wirklich offen für alle politischen Diskussionen». Dazu gehöre die Diskussion über Migrationsfragen. «Lasst uns (...) sehen, was wir angehen und vielleicht ändern müssen», sagte er.
Expertin kritisiert das «stille Ignorieren von Urteilen»
Dana Schmalz, Expertin für Migrationsrecht und Menschenrechte am Max-Planck-Institut für Völkerrecht, wünscht sich eine differenziertere Debatte über die Entscheidungen des EGMR. Wahlweise heisse es, der Gerichtshof sei aktivistisch und schütze Migranten übermässig, oder er sei gekippt und wahre die Menschenrechte nicht mehr, sagte Schmalz der dpa. Für beide Extreme gebe es keine Faktengrundlage, so die Rechtswissenschaftlerin.
Weit verbreiteter als verbale Attacken von Politikern sei aber das «stille Ignorieren von Urteilen», mit dem die Konvention untergraben werde, sagte Schmalz weiter. Der Gerichtshof stelle regelmässig bei den Flüchtlingslagern in Griechenland Verletzungen der EMRK fest. Es ändere sich aber überhaupt nichts. Die Rechtswissenschaftlerin befürchtet, dass so die tatsächliche Wirkung der Institution und ihrer Entscheidungen abnehme. «Mit jedem Urteil, was die EU-Staaten ignorieren, kratzt man ein bisschen an der Autorität des Gerichtshofs.»
46 Staaten zur Achtung verpflichtet
DIMR-Direktorin Rudolf fordert ein klares Bekenntnis vonseiten der Staaten zum Gerichtshof. «Wir sollten stolz darauf sein, dass wir in Europa einen Gerichtshof haben, der verbindlich und letztinstanzlich entscheidet bei Menschenrechtsverletzungen durch Staaten», sagte die Direktorin des Menschenrechtsinstituts. «Das haben wir über 75 Jahre entwickelt.»
Am 4. November 1950 unterzeichneten die ersten Mitgliedstaaten des Europarats das Abkommen, darunter auch Deutschland. 1953 trat es in Kraft. Mittlerweile verpflichtet die EMRK die 46 Staaten des Europarats, eine von der EU unabhängige Organisation./vni/DP/stw
(AWP)