Gut zehn Stunden debattierte der Nationalrat über die Initiative. Über hundert Ratsmitglieder, mehr als die Hälfte der grossen Kammer, äusserten sich. Der Rat beschloss sein Nein zur SVP-Initiative am Donnerstag mit 121 zu 64 Stimmen bei 6 Enthaltungen. Allein die SVP stimmte mit Ja, die Enthaltungen kamen aus der Mitte-Fraktion. Deren direkten Gegenvorschlag hatte der Rat zuvor abgelehnt.
Die SVP verlangt eine «nachhaltige Bevölkerungsentwicklung». Demnach soll die Einwohnerzahl der Schweiz 2050 zehn Millionen nicht überschreiten dürfen. Leben schon zuvor 9,5 Millionen Menschen im Land, müssen Bundesrat und Parlament handeln.
Etwa dürften vorläufig Aufgenommene keine Niederlassungsbewilligung mehr erhalten und nicht mehr eingebürgert werden. Der Nachzug von Familien würde eingeschränkt. Internationale Abkommen, die zu einem Bevölkerungswachstum führen, müssten mit Blick auf eine Ausnahmeklausel neu ausgehandelt werden. Genügt alles nicht, müsste als letzte Massnahme das EU-Freizügigkeitsabkommen gekündigt werden.
«Die Menschen haben genug»
Die Menschen spürten die Folgen der Zuwanderung Tag für Tag, sagte Christian Glur (SVP/AG), mit hohen Mietzinsen, im Stau und in vollen Zügen, und sie hätten genug davon. «Überlastung und Dichtestress, wo man hinschaut», konstatierte Mike Egger (SVP/SG). Derweil gehe das Zubetonieren des Landes weiter.
Gerade rund 8000 Zuwanderer habe der Bundesrat bei der Einführung des freien Personenverkehrs versprochen, sagte Monika Rüegger (SVP/OW). «Diese Versprechen haben sich als Illusion entpuppt.» Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative von 2014 hätten die FDP und die Linke missachtet. Wäre jene Initiative umgesetzt worden, gäbe es die neue Debatte nun nicht, fügte Markus Schnyder (SVP/GL) bei.
Die Initiative wolle keine Abschottung, stellte Franz Grüter (SVP/LU) klar. Die Schweiz solle eine selektive Einwanderungspolitik betreiben, so wie das andere klassische Einwanderungsländer auch machten. «Man kann Menschen auch stapeln, wie in Hongkong. Aber will das unsere Bevölkerung?», fragte Benjamin Fischer (SVP/ZH).
«Gefährlicher Irrweg»
Alle anderen Fraktionen waren gegen die Initiative. «Unserem Land wird ein gefährlicher Irrweg vorgeschlagen», sagte Eric Nussbaumer (SP/BL). Zuwanderung habe mit Beschäftigungswachstum zu tun.
«Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber», sagte Regine Sauter (FDP/ZH). Eingewanderte aus der EU und der Efta zahlten mehr in die Sozialwerke ein, als sie bezögen. Patrick Hässig (GLP/ZH) forderte, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen.
«Ohne starke Wirtschaft würden wir nicht über volle Züge diskutieren, sondern über leere Portemonnaies», sagte Kris Vietze (FDP/TG). Gabriela Suter (SP/AG) führte den Andrang auf Strasse und Schiene auf ein verändertes Mobilitätsverhalten zurück. «Um die Probleme anzupacken, müssen wir unser Verhalten ändern.»
Michael Töngi (Grüne/LU) nannte es «heuchlerisch, wenn die SVP die hohen Mietzinse für ihre Initiative instrumentalisiert». Die SVP-Initiative sei «brutal gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtet», stellte Cédric Wermuth (SP/AG) fest.
EU-Verträge als Gegenprojekt
Der Bundesrat präsentierte im März Massnahmen in den Bereichen Wohnen, Asyl und Arbeitsmarkt, um Folgen der Zuwanderung abzufedern. Justizminister Beat Jans warnte, die Initiative löse keine Probleme, sondern schaffe neue. «Die EU ist unsere wichtigste Partnerin. Die Initiative würde die bilateralen Beziehungen brutal angreifen.»
Das mit der EU ausgehandelte neue Vertragspaket sei das Gegenprojekt zu der Initiative, sagte Jans und erinnerte an die darin enthaltene und von der SVP abgelehnte Schutzklausel. «Mit ihr können wir die Zuwanderung aus der EU beschränken, ohne den bilateralen Weg infrage zu stellen.»
Kein Gegenvorschlag
Die Mitte hätte mit einem direkten Gegenvorschlag die Zuwanderung steuern wollen, ohne die Personenfreizügigkeit zu gefährden. Zuwanderung beschäftige die Menschen, und deshalb brauche es klare Regeln, um sie zu steuern, sagte Philipp Matthias Bregy (Mitte/VS). «Aber wir dürfen die bilateralen Verträge nicht aufs Spiel setzen.»
Der vom Nationalrat abgelehnte Gegenvorschlag nannte als Zielgrösse zehn Millionen Einwohner. Sobald die Zahl 9,5 Millionen überschreitet, hätte der Bundesrat handeln müssen. Als letztes Mittel wollte die Mitte Verhandlungen mit der EU über eine nachhaltige Steuerung der Zuwanderung verlangen.
(AWP)