Was beschäftigt die Finanzmärkte?

Franz Wenzel: Im Moment wird das Börsengeschehen insbesondere von den konjunkturellen Daten bestimmt, die eine weitere, wenngleich weniger dynamische Erholung bestätigen. Der scharfe Konjunktureinbruch des zweiten Quartals scheint mittlerweile Historie zu sein, zumal die Hoffnung auf einen Impfstoff stetig zunimmt. Sollte diese Hoffnung einen Dämpfer erhalten, würden die Märkte zweifellos schwächeln.

An den Börsen jagt ein Rekord den anderen, und dies in einer durch die Pandemie verursachten schweren Wirtschaftskrise. Wie kann das sein?

An den Börsen wird Zukunft gehandelt. Man kann davon ausgehen, dass über kurz oder lang ein Impfstoff gefunden wird, der die Pandemie einzudämmen vermag, sodass sich das Wirtschaftswachstum wieder entfalten kann. Dies gilt umso mehr, als die Notenbanken und Regierungen mit einer nie dagewesenen Geld- und Fiskalpolitik die Märkte massiv gestützt haben und die Aktienpreise mit einem 20-Fachen Kurs-Gewinn-Verhältnis (MSCI-Weltindex) trotz der Rallye nicht überteuert sind.

Die Treiber der Hausse sind in erster Linie die US-Techkonzerne, beispielsweise Amazon und Tesla. Ist das eine zweite Dotcom-Blase oder sind die Erwartungen der Anleger dieses Mal realistisch?

Zweifellos führen einige Einzeltitel die Börsenrallye an. Allerdings greift eine solche Betrachtung zu kurz. Wachstumsaktien, also Titel, die auf Dauer eine stetige Gewinndynamik aufweisen können, haben in der Breite die Nase vorn. Angesichts eines weltweit schwachen strukturellen Wachstums wird dies auch so bleiben. Dass es nach einer so deutlichen Kurzrallye zu Rücksetzern kommen wird, ist sehr wahrscheinlich, ändert aber an den positiven Rahmendaten nichts.

Viele Firmen präsentieren in diesen Tagen ihre Halbjahreszahlen. Wie schätzen Sie die bisherigen Ergebnisse ein?

Wie erwartet sind die Halbjahreszahlen mit einem Rutsch von mehr als –50 Prozent gegenüber dem Vorjahr sehr schwach ausgefallen. Allerdings hatten sich die Investoren auf noch schwächere Resultate eingestellt. Schlussendlich stand eine leicht positive Überraschung zu Buche. Der deutliche Gewinnmargendruck wurde von der Hoffnung auf einen Impfstoff überlagert. Für das dritte Quartal erwarten wir eine deutliche Steigerung der Gewinne, die bis 2021 trägt. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von um das 16-Fache rechtfertigen und erscheint keinesfalls übertrieben.

In den USA sind schon bald Wahlen. Die meisten Investoren scheinen auf Donald Trump zu hoffen. Was hätten Anleger bei einem Sieg von Joe Biden zu befürchten?

Zweifellos sind die US-Wahlen von zentraler Bedeutung für die Weltbörsen. Ein Wahlsieg der Demokraten bringt mit grosser Wahrscheinlichkeit höhere Steuern mit sich, insbesondere in den oberen Einkommensschichten. Gleichwohl wird auch ein neuer Präsident nicht umhinkommen, die Beschäftigung wieder auf eine breite Basis zu stellen und somit die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken. Das stabilisiert die konjunkturellen Fundamente und auch die Börsen werden das zu honorieren wissen.

Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?

In der nahen Zukunft wird der Pandemie wieder höhere Aufmerksamkeit gewidmet. Gleichzeitig werden die Konjunkturdaten und insbesondere deren Dynamik minutiös analysiert. Gerade in den USA, aber auch hier in Europa suggerieren die Daten ein eher verhaltenes Momentum. Diese haben umso mehr Bedeutung, als sie die Gewinndynamik für die kommenden Quartale bestimmen werden. Eine weitere Erholung unterstützt den Markt, trotz einer Bewertung mit dem 19-Fachen der Gewinne.

Wo steht der SMI in zwölf Monaten?

Bis dato konnte sich die Schweizer Konjunktur relativ tapfer schlagen. Gleichzeitig konnte der Schweizer Aktienmarkt von seinem defensiven Charakter profitieren. Sollte in den kommenden Monaten ein wirksamer Impfstoff gegen das Virus entwickelt werden, sollte dies insbesondere den Healthcare, aber auch eher zyklische Sektoren beflügeln und weitere Kursavancen begünstigen. Wir erwarten Gewinnsteigerungen und analoge Börsenavancen zwischen 5 Prozent und 10 Prozent auf Jahressicht. Die im November anstehenden US-Wahlen bleiben eine unbekannte Variable.

Franz Wenzel ist Anlagestratege für institutionelle Kunden bei Axa Investment Managers, einer Vermögenverwaltungsgesellschaft des französischen Axa-Versicherungskonzerns.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Handelszeitung auf HZ.ch unter dem Titel «Die Aktienpreise sind trotz der Rallye nicht überteuert».