So brutal wurde internationales Recht in Europa seit langem nicht mehr gebrochen: Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am vergangenen 24. Februar erinnert viele an den Zweiten Weltkrieg. Parallelen zwischen damals und heute zu ziehen ist vor allem in den sozialen Medien zurzeit beliebt.

Historische Vergleiche oder Gleichsetzungen sind aber immer heikel und sollten in extremer Ausprägung unterlassen werden. Zu sagen, dass sich die Geschichte wiederhole, ist zu einfach. Es sind bestimmte Muster, die immer wieder auftreten und so dazu beitragen können, die Gegenwart zu interpretieren. Von einigen ökonomischen Umständen her erinnert die Invasion Russlands im westlichen Nachbarland an eine Entwicklung einige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, den italienischen Angriff auf Äthiopien im Jahr 1935.

Äthiopien wehrte sich tapfer

Italien war seit Ende des 19. Jahrhundert Kolonialmacht in den ostafrikanischen Gebieten Eritrea und Somaliland. Der faschistische Diktator Benito Mussolini wollte das grosse Flächenland Äthiopien, das damals auch Abessinien genannt wurde und ein unabhängiger Staat war, dazuhaben. Nach wochenlangen Drohungen, Provokationen und Propagandadröhnen griffen italienische Streitkräfte am 3. Oktober 1935 an. Äthiopien wehrte sich militärisch entschlossen.

Erst am 9. Mai 1936 fiel die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba in die Hände der Angreifer. Mit ungeheurem Pomp verkündete Mussolini in Rom die Existenz eines italienischen Weltreiches. Tatsächlich kontrollierte Italien aber wohl nur etwa ein Drittel Äthiopiens. Obwohl die Faschisten ihre Kriegsziele mit Bombardements, Giftgas, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und Massakern vorantrieben, leisteten äthiopische Guerillaeinheiten Widerstand. Am Tanasee im Nordwesten des Landes, wo die Quellen des Blauen Nils liegen, hielten sich die Widerstandskämpfer über die ganze Zeit der italienischen Okkupation.

Finanzsanktionen, aber kein Ölembargo

Der Abessinienkrieg war bis dahin die grösste weltpolitische Krise der 1930er Jahre. Der Angriff war ein Bruch des Völkerrechts, über dessen Einhaltung zu dieser Zeit mit nur mässigem Erfolg der Völkerbund wachte, eine Art Vorläufer der heutigen UNO mit Sitz in Genf. Neben politischen Folgen hatte der Krieg auch wirtschaftliche und finanzielle Implikationen.

Italien wurde vom Völkerbund schnell als Aggressor verurteilt. Im November 1935 erliess die Staatengemeinschaft Sanktionen über Lieferungen von Waffen an Italien und Äthiopien. Dazu kamen Finanzsanktionen, die verhindern sollten, dass Italien weiterhin Geld an den internationalen Finanzmärkten aufnehmen konnte.

Ein Embargo für Öl, Kohle und Stahl gegen Italien gab es aber nie. Die bedrängte äthiopische Regierung forderte diese Art von Sanktionen vor dem Völkerbund vehement, doch die westlichen Mächte und Demokratien Grossbritannien und Frankreich glaubten nicht an deren Erfolg. Schon im August 1936 wurden die Sanktionen gar wieder aufgehoben. Später akzeptierten die meisten Länder der damaligen Welt die italienische Herrschaft über Äthiopien. Nur wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg schwächte der Völkerbund mit seinem halbherzigen Vorgehen seine Glaubwürdigkeit als Macht gegen kriegstreibende Länder. 

«Krieg hätte innerhalb einer Woche geendet»

Die mögliche Wirkung eines Ölembargos im Jahr 1935 ist unter Historikerinnen und Historikern umstritten. Solche Sanktionen waren in der damaligen Zeit neu und deren Durchsetzung wäre nicht einfach gewesen. In der Tat hätte Italien auch Öl von Nicht-Mitgliedern des Völkerbunds beziehen können. In Bedrängnis hätte man die Kriegsherren in Rom wohl nur bringen können, wenn das Nicht-Völkerbundsmitglied USA mitgemacht hätte.

Ein entschiedenes Eintreten Grossbritanniens, Frankreichs und der USA für Ölsanktionen hätten Italiens Industrieproduktion mit der Zeit stark getroffen. Den Vormarsch der Truppen in Ostafrika hätten sie unmittelbar nicht gestoppt. "Die meiste Zeit gab er [Mussolini] sich genuin Illusionen hin, dass der Faschismus Effizienz bedeute und damit alles in Ordnung sei", schreibt Denis Mack Smith in seinem berühmten Buch "Mussolinis Roman Empire". Gleichzeitig legen historische Quellen zumindest nahe, dass Mussolini ein Ölembargo fürchtete. Italien hätte den Krieg in Äthiopien innerhalb von einer Woche beenden müssen, sagte der Diktator 1938 gemäss überlieferten Aufzeichnungen eines Dolmetschers zu Hitler.

Für die instabile Wirtschaft Italiens war der Kriegszug ein Problem. Vorstellungen von einem ökonomischen Grossreich erfüllten sich nicht. Und Mussolinis Verhalten zeigte, dass ihm Kriege, Eroberungen und das Heraufbeschwören nationaler Grösse nicht nur wichtiger waren als Menschenleben, sondern auch wichtiger als wirtschaftliche Belange.

Weit kamen die Faschisten mit ihren imperialen Obessionen letztlich nicht. Das Abessinien-Abenteuer verstärkte trotz der schwachen Völkerbunds-Sanktionen Mussolinis Misstrauen gegen die westlichen Mächten und trieb ihn in die Arme des Dritten Reiches. 1940 trat er an Hitlers Seite in den Zweiten Weltkrieg ein. Die italienische Gewaltherrschaft in Ostafrika endete gegen Ende 1941, als Truppen des Commonwealth Addis Abeba eroberten und das unabhängige Kaiserreich Äthiopien wiederherstellten.