In manchem bleibt die Schweiz ein Sonderfall: Während ringsherum politische Machtstrukturen unter Druck geraten, erweist sich das politische und parlamentarische System der Schweiz als stabil. Andernorts pulverisieren die Wählerinnen und Wähler althergebrachte Parteien, in der Schweiz besteht die Parteienlandschaft fort. Auch wirtschaftspolitisch erlebt die Schweiz keine radikalen Umwälzungen.
Aber schwappt die Anti-Establishment-Stimmung in anderen Ländern nicht auch eines Tags auf die Schweiz über? Die Ablehnung der Unternehmenssteuerreform III und das Nein zur Altersvorsorge 2020 könnten ein Hinweis darauf sein. Aber neigen die Schweizer grundsätzlich zum Umstürzlerischen?
Vor zwei Jahren, am 18. Oktober 2015, wurden zuletzt National- und Ständerat gewählt, wobei die bürgerlichen Parteien SVP und FPD am meisten Sitze dazugewannen - prompt war vom Rechtsruck die Rede. In wiederum zwei Jahren, im Herbst 2019, finden die nächsten Wahlen statt. Politologe Michael Hermann analysiert im Gespräch mit cash.ch, wo die Schweiz in der Mitte der Legislatur politisch und wirtschaftspolitisch steht.
cash: Nach den Parlamentswahlen vor zwei Jahren wurde von einem Rechtsruck gesprochen. Hat sich dieser auch spürbar eingestellt?
Michael Hermann: Der Rechtsruck hat sich sicher manifestiert, aber nicht direkt und nicht in allen Aspekten. In der Schweizer Politik geschehen solche Veränderungen immer in kleinen Schritten, die sich aber durchaus aufsummieren können.
Ist die Wahl von Ignazio Cassis zum Bundesrat mit Mitte-Rechts-Unterstützung ein Gradmesser für diese Entwicklung?
Im Bundesrat gab es einen Rechtsruck auf Raten. Noch mit Eveline Widmer-Schlumpf, die 2015 zurücktrat, war das Stimmenverhältnis im Gremium häufig 5:2 für Mitte-Links. Bis zum Rücktritt von Didier Burkhalter diesen Sommer reichte es mit 4:3 immer noch häufig für Mitte-Links. Jetzt sieht es mit Cassis anders aus, wobei sich die Lage auch nicht völlig dramatisch ändern wird.
Wurde der Rechtsruck nach den Wahlen 2015 dennoch zu rasch verkündet?
Zuerst wurde der Rechtsruck überschätzt, dann unterschätzt, nun kommt er mit zeitlicher Verzögerung. Wichtig ist aber: Nach dem Nein zur Unternehmenssteuerreform USR III im vergangenen Februar hat sich die Mitte-Links-Seite in falscher Sicherheit gewiegt, mit dem Glauben, dass es in der Bevölkerung eine Gegenbewegung zu Mitte-Rechts gebe. Es ist ja auch so, dass in der Politik die Bewegung in die eine Richtung auch immer wieder die andere Seite stärkt. Aber das USR-III-Nein war kein reiner Mitte-Links-Erfolg, es basierte auch auf vielen Stimmen traditionell rechtsgerichteter Wähler.
Wie ordnen Sie das Nein zur Rentenreform Ende letzten Monats in dieses Szenario ein?
Das USR-III-Nein führte an bestimmten Stellen zu falschen Schlussfolgerungen. Speziell die CVP schätzte nach dem USR-III-Nein die Lage falsch ein und ordnete sich dann in der Frage der Altersreform aus taktischen Überlegungen im Mitte-Links-Lager ein. Nach dem Abstimmungs-Nein zur Rentenvorlage am 24. September, die ein Erfolg für Mitte-Rechts war, kann es nun sein, dass die CVP sich auch wieder mehr bürgerlich gibt.
Gibt es einen gesellschaftlichen Rechtsruck?
Nach Phasen von Aufbruch und progressivem Geist gibt es immer wieder eine Art konservative Rückbesinnung. Die 'Entzauberung' der sozialdemokratischen Idee in der westlichen Welt spielt dabei im Moment eine wichtige Rolle. Dies hat auch damit zu tun, dass es eine christdemokratisch-soziale Haltung gibt, die sich von neoliberalen Ideen in der Wirtschaft wieder verabschiedet hat. So kann die Linke Wähler nicht mehr allein über soziale Themen mobilisieren. Dies zeigte sich beispielsweise deutlich in den deutschen Bundestagswahlen. In Deutschland wie auch in der Schweiz herrscht bei vielem im Moment wirtschafts- und sozialpolitisch Konsens, was die Linke lähmt.
Wo im Links-Mitte-Rechts-Schema befindet sich die Schweiz wirtschafts- und sozialpolitisch?
Die Schweiz ist eigentlich ein Hybrid: Weit weg vom sozialdemokratisch-skandinavischen Modell, aber auch relativ weit weg von individualistisch-angelsächsischen Vorstellungen. Dies macht es gewissermassen schwierig, die Schweiz wirtschaftspolitisch zu interpretieren.
Wie zeigt sich dies?
Die Schweiz ist unternehmens- und wirtschaftsfreundlich und eine starke Rolle von Staat, Gewerkschaften oder Betriebsräten wird sehr kritisch gesehen. Man hat aber auch eine Art gemeinschaftliche Vorstellung – auf dem Gemeinsinn beruhend, aber nicht kollektivistisch. Es geht um einen willentlichen Zusammenschluss von Menschen, wo aber nicht automatisch der Wohlfahrtsstaat die Klammer ist. In der Schweiz war immer der Genossenschaftsgedanke stark, aber klassische sozialdemokratische Forderungen haben wenig Chancen. Die Leute ertragen sehr hohe Löhne nur schwer, stellen sich aber auch gegen staatliche Lösungen wie beispielsweise in der 1:12-Initiative.
Hat die Wirtschaft recht, wenn sie beklagt, dass die Politik – vor allem was Volksabstimmungen betrifft – unberechenbar geworden ist?
Schon seit Anfang 90er Jahre verliert die Wirtschaft vermehrt Abstimmungen, wie schon 1992 beim abgelehnten EWR-Beitritt. Die Ablehnung der USR III war nichts Neuartiges, sondern Teil einer langen Kette solcher Entscheidungen. Die Wirtschaft denkt aber seit der Minder-Initiative von 2013, das Volk habe sich entfremdet von ihr.
Warum gerade diese Initiative?
Die Minder-Initiative, oder wie sie offiziell hiess, die 'Initiative gegen die Abzockerei', traf wegen der hohen Löhne in internationalen Grosskonzernen einen Nerv. Die verstärkte Übernahme der angelsächsischen Unternehmenskultur mit diesen hohen Gratifikationen stellt in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte eine Veränderung dar, und sie prägt die Debatte. Diese Kultur stösst auch bei konservativen Wählern auf Widerstand.
Hat die Lohndebatte eine Anti-Establishment-Haltung verstärkt?
In der Schweiz schaute man lange Zeit, dass die Unterschiede bei den Löhnen nicht zu gross werden. Die Wirtschaft sollte sich da selber regulieren, und sie tat es auch. Der angelsächsische Einfluss aber stellt diesen alten schweizerischen Konsens in Frage und dies weckt vermehrt Abwehrkräfte. Eine gewisse Anti-Establishment-Haltung ist aber auch institutionalisiert durch die direkte Demokratie. Sie ist gewissermassen 'institutionalisierter Populismus', oder ein Ventil.
Eine Reihe von europäischen Ländern – am augenfälligsten vielleicht Frankreich – erlebt Stimmenverluste oder den Zerfall bei lange existierenden Parteien. Wieso gibt es diese Erosion nicht in der Schweiz?
Zu einem gewissen Grad sind in den 90er Jahren FDP und CVP durchaus zugunsten der SVP erodiert. Die SVP hat die nationalkonservativ eingestellten Wähler dieser Parteien abgesogen. Aber auch dies geschah nicht mit einem grossen Krachen, sondern schrittweise. Parteien sind nicht immer so zentral: Mit den Abstimmungen hat man in der Schweiz ein Instrument, seine Unzufriedenheit zu äussern, und braucht dafür nicht unbedingt neue Parteien zu wählen.
Gibt es in der Schweiz Voraussetzungen, die trotzdem 'Disruptionen' auslösen könnten?
Die EWR-Abstimmung schüttelte 1992 das Parteiensystem auf. Schon die 68er und dann die Zuwanderungsdebatte in den 70er Jahren sorgten für Unruhe. Es entstehen immer wieder neue Parteien. Aber in der Schweiz passieren Veränderungen früh: Die SVP als nationalkonservative Partei stieg vor 30 Jahren schon auf, in anderen europäischen Ländern passiert dies erst jetzt. Bei uns sind solche Entwicklungen schon ins System eingespeist und die Erschütterungen passieren weniger heftig.
Im Ausland passieren Umwälzungen, die von den Regierungen dann als Schock wahrgenommen werden. Wie beispielsweise beeinflusst das britische EU-Austrittsvotum vom Juni 2016 die Schweiz?
Ereignisse wie dieses beeinflussen die Schweiz stark und sie werden genau verfolgt. Der Brexit wird sich auf die Einstellung der Schweiz zur EU auswirken: Geht es den Briten nach dem Brexit wirtschaftlich schlechter, könnte dies wiederum zu einer positiveren Haltung in der Schweiz zur EU führen. Sieht man hingegen, dass Grossbritannien gut fährt und neuen Handlungsspielraum erhält, wird im Verhältnis Schweiz-EU eher das Gegenteil der Fall sein.
Und die Präsidentschaft von Donald Trump?
Die SP beispielsweise hat durch Trumps Wahl wie schon durch den Brexit Zulauf von neuen Mitgliedern erhalten. Damit indessen die Anti-Trump-Mobilisierung bis zu den nächsten Wahlen Wirkung zeigt, müsste sich diese noch deutlich festigen.
Mit welchen Themen beschäftigt sich die Schweiz vor den nächsten Wahlen 2019?
Ein grundsätzliches Thema ist natürlich die Frage nach der Reformfähigkeit der Schweiz: USR III ist gescheitert, die Altersreform auch. Die Probleme dahinter werden schon als dringlich wahrgenommen: Man muss etwas machen, aber es ist schwierig. Ich wage aber die Prognose, dass auch die nächste Steuerreform scheitert. Das Parlament wird wieder die Unternehmen entlasten wollen, und das Volk wird erneut nicht ganz einsehen, wieso dies nötig sei. Daneben werden auch Einwanderung und die EU wegen der SVP-Kündigungsinitiative eine Rolle spielen, je nachdem, wie weit diese Vorlage bis zu den Wahlen 2019 gekommen ist.
Und was werden die grossen Themen im Wahlkampf 2019 sein?
Wenn man zurückblickt, dann zeichnen sich diese zwei Jahre vor den Wahlen noch nicht ab. 2011 war die Atomfrage nach Fukushima zentral, 2015 die Flüchtlingskrise. Beide Ereignisse entwickelten sich erst kurz vor den Schweizer Parlamentswahlen. Wir könnten uns in zwei Jahren mit Themen beschäftigen, die wir heute noch gar nicht kennen.
Michael Hermann ist Geograph und Politikwissenschaftler. Er hat wissenschaftliche Schriften und Bücher zur Schweizer Politik verfasst, darunter den «Atlas der politischen Landschaften: Ein weltanschauliches Porträt der Schweiz». Hermann untersucht das Schweizer Parlaments- und Parteiensystem und er hat die heute vielfach verwendeten «Spinnenprofile» zur Veranschaulichung politischer Haltungen entwickelt. Er ist Geschäftsführer der Firma Sotomo in Zürich, die Meinungsforschung und politische und gesellschaftliche Analysen erstellt.