Der Rückgang ist eindrücklich. Im ersten Halbjahr waren die Verkäufe von Schweizer Uhren nach Hongkong um mehr als die Hälfte tiefer als ein Jahr davor. Zum ersten Mal seit Jahren ist die asiatische Metropole nicht mehr der wichtigste Markt für die Swiss-Made-Zeitmesser. Damit wird die Frage drängender: Behält Hongkong seine zentrale Funktion für die Schweizer Hersteller?
Die Frage stellt sich nicht erst jetzt: 2019 schaffte es Hongkong nur knapp an die Spitze der Statistik. Gegen Ende Jahr brachen politische Unruhen aus, was zu einem starken Rückgang der Uhrenverkäufe führte. Die Touristen vom chinesischen Festland, die mit Abstand wichtigsten Käufer der Zeitmesser, blieben der Insel fern.
Die politische Lage in Hongkong hat sich bekanntlich nicht beruhigt. Und zu dieser Krise ist mit dem Corona-Virus eine gesundheitliche dazugekommen. Seit Jahresbeginn ist der Tourismus zum Erliegen gekommen.
Hongkong hat zwei Stärken. Und eine davon ist infrage gestellt.
Eine Drehscheibe für die Uhrenindustrie
Hongkong ist eine Zollfreizone und dient den Herstellern deshalb als Logistikdrehscheibe. Swatch, Richemont und andere führen ihre Kollektionen steuerfrei ein und verteilen sie von hier aus in Festlandchina oder in andere asiatische Länder.
Das ist der Hauptgrund, wieso Hongkong hoch in der Statistik rangiert. In den Zahlen verstecken sich Verkäufe, die sich in anderen Regionen abspielen.
Ein Teil der Uhren geht aber auch in Hongkong über den Ladentisch, und das ist die zweite Stärke der Metropole: Sie ist ein Tourismusmagnet und Duty-Free-Paradies. Millionen von Besuchern kommen in normalen Jahren in die Stadt, viele davon kaufen Uhren und andere teure Artikel, weil sie hier keine Mehrwertsteuer bezahlen.
«Der Markt ist im Sinkflug»
Künftig dürften chinesische Touristen nicht mehr so in grosser Zahl in die Boutiquen strömen, glaubt Uhrenexperte Oliver Müller von der Beratungsfirma Luxeconsult. Die chinesische Regierung wolle, dass die Bevölkerung Luxusgüter im Inland kauft, statt im Ausland zu shoppen – und schaffe deshalb neue Duty-Free-Zonen, beispielsweise auf der Urlaubsinsel Hainan in Südchina.
"Als Logistikhub wird Hongkong wichtig bleiben. Aber der Markt ist klar im Sinkflug. Die Mieten in der Stadt sind zudem viel zu hoch, und das Ladennetz muss man extrem ausdünnen. Audemars Piguet, Omega und die anderen Luxusmarken haben schon viele ihrer Läden geschlossen und investieren das Geld lieber direkt in China", sagt Müller.
Der Hongkonger Uhrensammler Carson Chan malt die Zukunft weniger düster. Er sagt: "Wenn andere Städte zu Duty-Free-Zonen werden, erhält Hongkong zwar Konkurrenz. Aber das Angebot bleibt unerreicht: Hongkong ist ein Finanzzentrum, offeriert eine ausgezeichnete Infrastruktur, hat eine kosmopolitische Bevölkerung und verfügt über internationale Ausstrahlung. Die Stadt spielt in einer anderer Liga als etwa Hainan."
Der Beitrag erschien zuerst auf handelszeitung.ch unter dem Titel: «Uhrenmekka Hongkong: Ist die Zeit abgelaufen?».