cash.ch: Frau Hockenjos, die weltweiten Börsen sind nicht gut in das neue Jahr gestartet. Die Inflation bleibt hoch, die Anleihenrenditen und die Zinsen steigen. Ist die Party am Aktienmarkt zu Ende?

Fabienne Hockenjos: Die Party ist noch nicht zu Ende. Es wird einfach anspruchsvoller, da die Kurse nicht geradlinig aufwärts gehen werden. Zins- und Inflationsrisiken werden sich in Rückschlägen aber keinem Crash materialisieren. Dies bietet attraktive Einstiegsmöglichkeiten. Das alte Sprichwort 'Buy the Dip' könnte sich auch dieses Jahr als gute Taktik erweisen. Aber die Risiken sind sicher grösser geworden.

Die Volatilität wird doch das ganze Jahr hindurch hoch bleiben?

Dies ist in Anbetracht der hohen Bewertungen und der vielerorts neuen Rekordständen an den Börsen zum Jahreswechsel anzunehmen. Die Zins- und Inflationsentwicklung werden die grössten Volatilitätstreiber sein. Doch auch die Politik hat das Potenzial für Marktturbulenzen. Wir haben den Handelskrieg, der durch Covid in den Hintergrund gerückt ist. Zudem stehen in den USA Wahlen an und nicht zu vergessen die geopolitischen Konflikte wie zum Beispiel um Russland oder China. Die Erwartung an ein gleich gutes Jahr wie 2021 wäre vermessen. Wir sind aber vorsichtig positiv für 2022 und erwarten eine Gesamtrendite im einstelligen Prozentbereich. Es braucht jedoch sicherlich in diesem Jahr mehr Nerven.

Insbesondere die Anleihenrenditen sind seit Jahresbeginn deutlich in die Höhe geschossen. Die Schweizer Bundesobligationen mit zehnjähriger Laufzeit sind sogar in den positiven Bereich vorgestossen. Wurden Sie von der Stärke der Bewegung überrascht?

Der Bondmarkt neigt dazu, Anpassungen schnell und heftig zu machen. Der Anstieg selbst ist keine Überraschung. Die Überraschung ist vielmehr, dass dieser nicht bereits letztes Jahr stattgefunden hat. Dies gilt insbesondere für die USA, da die US-Notenbank Fed bereits seit längerem einen restriktiveren Ton angeschlagen hat und die Markterwartungen in Bezug auf das Tempo des Tapering und die Anzahl der Zinserhöhungen im laufenden Jahr laufend aggressiver wurden. 

Was signalisiert der vorausschauende Bondmarkt?

Der Bondmarkt signalisiert zweierlei: Erstens die Zuversicht, dass Omikron die nachhaltige Konjunkturerholung nicht ausbremst. Zweitens, dass eine Trendwende bei der Fiskal- und allen voran der Geldpolitik stattfindet.

Was bedeutet die Trendwende in der Geldpolitik für den Aktienmarkt?

Seit Jahrzehnten hatten wir sinkende Zinsen. Jetzt findet die Kehrtwende in der Zinsentwicklung statt. Man bewegt sich langsam, aber stetig aufwärts. Dies ist im Grundsatz ein gutes Zeichen. Denn steigende Zinsen bedeutet nicht automatisch ein Zusammenbrechen der Aktienmärkte. Es ist ebenso eine Reflektion einer Konjunkturerholung. Auch die Inflation ist in einem gewissen Mass ein gutes Zeichen, wobei die Teuerung derzeit aufgrund diverser Faktoren deutlich überschiesst.

Waren und Dienstleistungen kosteten im Dezember in den USA 7 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Dieses Inflationsniveau ist doch kein gutes Zeichen?

Das Überschiessen der Inflation ist für den Aktienmarkt in der Tat kein gutes Szenario. Vor allem weil Lieferengpässe, höhere Rohstoffkosten und Produktionsstopps und -verzögerungen die Gewinne von Unternehmen kurzfristig belasten. Wichtig ist jedoch, dass die treibenden Inflationskräfte sich über die nächsten Quartale wieder zurückbilden werden. 

Es gibt in der aktuellen Debatte zwei Seiten: Die eine Seite sagt, dass die Lohn-Preis-Spirale an Fahrt gewinnt und die Inflation antreiben wird. Die andere Seite geht von einem merklichen Rückgang der Inflation im Verlauf des Jahres aus. Was ist ihre Prognose?

Die Lohn-Preis-Spirale ist in der Tat ein grosses Risiko, jedoch nicht unser Basisszenario. In der derzeitigen Lohnkostenentwicklung spielen Trends hinein, die mit der Konjunkturerholung einhergehen und daher in einem gewissen Masse normal sind. In den USA ist beispielsweise die Partizipationsrate am Arbeitsmarkt trotz Vollbeschäftigung noch nicht auf das Vor-Krisen-Niveau angestiegen. Ich bin mehr auf der zweiten Seite, da wir bei diversen Inflationstreibern eine Entspannung beobachten. Bei den Frachtkosten und Containerpreisen haben wir eine Trendwende bereits hinter uns. Und der wichtigste Inflationstreiber Energie wird nicht noch einmal dermassen in die Höhe schiessen. Nach den Wintermonaten wird der Basiseffekt dafür sorgen, dass wir bei der Inflation eine sehr starke Bremsung haben.

Doch wie begründen Sie angesichts der geldpolitischen Trendwende den positiven Ausblick für den Aktienmarkt?

Der Ausblick auf die Gewinn- und Umsatzentwicklung bei den Unternehmen ist immer noch sehr gut. Dies stimmt positiv auf die weitere Entwicklung am Aktienmarkt und relativiert die hohen Bewertungen.

Die hohen Bewertungen sind doch nicht wegzureden?

Wir haben mit dem gegenwärtigen Zinsumfeld und der damit einhergehenden Vermögensinflation in jeder Anlageklasse hohe Bewertungen. Da ist der Aktienmarkt in bester Gesellschaft. Die Überbewertung ist am Bondmarkt noch ausgeprägter. Und die hohen Bewertungen werden am Aktienmarkt vom fundamentalen Umfeld gestützt.

Wie verhalten sich die Anleger angesichts der hohen Bewertungen?

Es ist mit dem Verhalten vor einem Jahr vergleichbar. Man ist sich bewusst, dass der Markt teuer ist, hat aber auch gelernt, dass investiert bleiben auch bei teuren Märkten rentiert. Wer hätte gedacht, dass die Erholung der Märkte nach dem Corona-Taucher derart schnell vonstattengeht. Wer hier auf den idealen Einstiegszeitpunkt gewartet hat, ist wohl noch heute nicht investiert und beobachtet, wie die Börse von Rekord zu Rekord eilt. Wichtig ist, dass man sich den Risiken von Aktienanlagen bewusst ist und eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Anlagestrategie verfolgt.

Wie sollen Anleger angesichts der hohen Bewertungen und der volatileren Börsen bei ihren Investments vorgehen?

Wir raten langfristig orientierten Anlegern zu einem gestaffelten Einstieg, da damit das Timing teilweise neutralisiert wird. Das letzte Jahr hat uns klar gelehrt, dass das Halten von Cash auch weh tun kann. Diese Opportunitätskosten darf man als Anleger nicht weg reden. Cash kostet in der Tendenz und die Obligationen- und Immobilienmärkte sind sehr teuer. Dem entgegengestellt bieten Aktien relativ gesehen noch immer eine attraktive Risikoprämie.

Aktien sind alternativlos. Das «Tina»-Prinzip gilt immer noch?

Tina rules the world. Das wird auch dieses Jahr gelten. Man muss schon sehen: Die 10jährigen Realzinsen sind in den USA bei minus 0,75 Prozent. Wir bleiben auch nach dem jüngsten 'Zinssprung' auf einem Niveau, das historisch tief ist. Damit wird die Alternativlosigkeit auch in diesem Jahr ein dominantes Anlagethema sein.

Die Realzinsen bleiben trotz der geldpolitischen Trendwende weiterhin tief…

Die Anleihen werden auch in absehbarer Zukunft noch keinen nennenswerten Zins abwerfen. Wer Rendite sucht, kommt noch für eine längere Zeit am Aktienmarkt nicht vorbei, wobei Anleihen im Portfoliokontext aus Risikoüberlegungen eine unverzichtbare Beimischung darstellen.

Gilt «Buy the Dip» auch bei Tech- und Wachstumswerten?

Bei Tech-Unternehmen, die auf Wachstum setzen und noch über keine Profitabilität verfügen, ist 'Buy the Dip' zu früh. Die in den ersten Handelstagen beobachtbare Abstrafung von extrem teuren Werten wird noch länger andauern. Die aktuelle Situation ist nicht mit der Tech-Blase aus dem Jahr 2000 vergleichbar, wo grösstenteils Unternehmen gehyped wurden, die keine Profitabilität aufwiesen. Wir sehen hoch profitable Large Caps wie Apple oder Microsoft, die eine überdurchschnittliche Profitabilitätentwicklung aufweisen und die von den durch die Pandemie noch angestossenen Megatrends weiterhin profitieren können.

Sollten Anleger in diesem Umfeld nicht vielmehr auf Substanzaktien (Value) und Zykliker setzen?

Zykliker sicherlich. Die Konjunkturerholung wird sich fortsetzen. Entsprechend sind Sektoren spannend, die davon profitieren. Bei den Substanzaktien wäre ich sehr vorsichtig. Es gibt Substanzaktien und Substanzaktien. Denn das Value Play kann sich auch zur 'Value Trap' entwickeln.

Wo sehen Sie eine «Value Trap»?

Mit Value kommt oft der Bankensektor in Verbindung. Wir bleiben bei den Grossbanken weiterhin vorsichtig, auch wenn sie von Zinserhöhungen profitieren werden. In der Schweiz ist die UBS bereits weiter mit der Vergangenheitsbewältigung, bei der Credit Suisse ist das Neuaufsetzung eines Risk Managements richtungsweisend. Die Risiken bleiben hier hoch. Wir präferieren im Finanzsektor Alternativen wie Partners Group oder den Versicherungssektor mit Zurich oder Swiss Life

Welche zyklischen Titel sollten Anleger für die Konjunkturerholung auf ihren Kauflisten haben?

In der Schweiz kann man auf diejenigen Titel setzen, die vom Megatrend Infrastruktur und Elektrifizierung profitieren. ABB, Holcim, Sika sind spannend. Aber auch Georg Fischer ist ein Profiteur der Konjunkturerholung. 

Mit welchen Titeln können Anleger ihre Defensive stärken?

Pharma und Medizinaltechnik ist als defensive Beimischung für das Portfolio interessant. Novartis und Roche sind von der Bewertung her spannend, aber auch eine Straumann oder eine Lonza.

Roche oder Novartis. Wo winken die grösseren Renditen?

Ich würde sowohl Roche und Novartis zum Kauf empfehlen. Ich denke aber, dass von der Fantasie her bei der Novartis mehr zu holen ist. 

Sie sprechen den potenziellen Verkauf der Generikasparte Sandoz an?

Unter anderem. Wir haben gesehen, dass Alcon seit der Abspaltung für die Aktionäre eine sehr gute Entwicklung gemacht hat. Novartis hat zudem Geld aus dem Verkauf der Roche-Inhaberaktien, welches sie den Aktionären zurückgeben kann und eine attraktive Produkte-Pipeline. Und der Konzern wurde letztes Jahr abgestraft, weil sie bei den Impfstoffen gegen Corona nicht dabei gewesen war. Das angestaute Nachholpotenzial könnte sich dieses Jahr materialisieren.

Wo würden sie eher empfehlen, Gewinne mitzunehmen?

Ich bin Fan von konsequenten Gewinnmitnahmen, was per se nicht gegen den einzelnen Titel spricht. Vielmehr geht es darum, ein Rebalancing zurück auf die Ausgangsquote vorzunehmen. Wir haben dies beispielsweise bei der ABB gemacht.

Bei welchen Titeln würden sie von einem Kauf abraten?

Wir sind keine Freunde von u-blox, Credit Suisse oder Implenia.  

Fabienne Hockenjos-Erni ist seit 2016 im Investment Center der Basellandschaftlichen Kantonalbank tätig und leitete ab 2017 das Investment Research der Bank. Als Chief Investment Officer verantwortet sie seit August 2020 die nachhaltige Vermögensverwaltung. Sie spezialisiert sich auf langfristige Anlagethemen mit Schwerpunkten im Bereich ESG und treibt die Integration von ESG-Kriterien im Anlageprozess voran. Fabienne Hockenjos-Erni studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel und ist CFA® Charterholderin am CFA Institute.

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