cash.ch: An den Märkten ist von einer möglichen «konzertierten» Aktion der Notenbanken die Rede. Das gab es schon einmal im Herbst 2008 inmitten der Weltfinanzkrise. Jetzt machen wegen des Coronavirus' wieder Rezessionsszenarien die Runde. Sind wir schon in einer ähnlichen Lage wie vor gut elf Jahren?

Thomas Gitzel: Nein, es gibt gewaltige Unterschiede. Das Coronavirus stellt nicht das Geschäftsmodell von Unternehmen in Frage. Es ist ein externer Schock, der temporär wirkt, aber nicht nachhaltig ist. 2001/02 war es anders, als die Dotcom-Blase mit vielen nicht nachhaltigen Geschäftsmodellen platzte. 2008 wiederum ging es um einen völlig überschuldeten Bankensektor, wo ebenfalls Geschäftsmodelle von Banken ins Wanken gerieten. Das ist diesmal anders.

Auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ hat dramatische Warnungen ausgestossen. Man fürchtet um den Bestand von Lieferketten sowie auch den Konsum. Wenn massenhaft Veranstaltungen ausfallen und Reisen abgesagt werden, muss dies doch beträchtliche Auswirkungen haben?

Dabei handelt es sich letztlich aber um einen Angebotsschock, und nicht um einen Nachfrageschock. Ein Angebotsschock wirkt sogar inflationär, weil er Waren verknappt. Letzteres wirkt inflationär und müsste sogar Zinserhöhungen nach sich ziehen. Gegenwärtig haben wir es aber sicherlich mit einem Mix aus beidem, also Nachfrage- und Angebotsschock, zu tun. Das richtige Handeln der Notenbank ist zumindest mit Blick auf die volkswirtschaftlichen Lehrbücher nicht ganz so eindeutig.

Glauben Sie dennoch an eine konzertierte Aktion der Notenbanken in den nächsten Tagen?

Das sind bisher Marktgerüchte. An eine grosse konzertierte Aktion glaube ich bisher noch nicht. Stattdessen wird die US-Notenbank Federal Reserve erst bei ihrer regulären Sitzung am 18. März die Zinsen von derzeit 1,75 Prozent aus senken. Die Notenbanken achten im Moment stark auf die Marktreaktion. Die Aussage von Fed-Präsident Jerome Powell, die Fed werde die Wirtschaft stützen, zeigt bereits positive Auswirkungen. So kann die amerikanische Notenbank relativ gelassen vorgehen. Wir rechnen zunächst mit einer Zinssenkung von 25 Basispunkten. Es wird aber wohl nach der März-Zinssitzung relativ zeitnah eine weitere geldpolitische Lockerung von 25 Basispunkten nachgereicht werden.

Was wird eher kommen: Zinssenkungen oder Liquiditätsspritzen?

Es werden bei der Fed Zinssenkungen sein und sie wird mit ihren Repo-Aktionen zur Sicherstellung von genug Liquidität fortfahren.

Werden andere Notenbanken schnell handeln oder auf die Fed warten?

Die Notenbanken werden unabhängig von der Fed handeln. Die Bank von Japan hat schon angekündigt, dass Liquiditätsspritzen zur Verfügung stehen werden. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) steht in den Startlöchern, um etwas zu unternehmen.

Was erwarten Sie von der EZB?

Die EZB ist schon unabhängig vom Coronavirus von einer eher schwachen wirtschaftlichen Entwicklung in der Eurozone konfrontiert. Unabhängig vom Coronavirus hatten wir eine EZB-Zinssenkung erwartet. Der Zinssenkungsspielraum der EZB ist natürlich wesentlich tiefer als bei der Fed. Sie wird aber im Lauf des Jahres den Einlagensatz um weitere 10 Prozentpunkte auf -0,6 Prozent senken.

Setzt dies die Schweizerische Nationalbank unter Druck?

Sicherlich. Auch in der Schweiz trüben sich die Konjunkturfrühindikatoren ein. Handelt die EZB, dann könnte auch die SNB gezwungen sein, mit einer Zinssenkung zu reagieren.

Wird es also einen Negativzins von -1 Prozent ist wegen des Coronavirus' geben?

Das ist ein mögliches Szenario. Unser Hauptszenario bleibt, dass die SNB nichts macht und stattdessen behutsam am Devisenmarkt interveniert. Die erwartete EZB-Geldpolitik in Kombination mit den negativen Auswirkungen des Coronavirus’ auf die Schweizer Wirtschaft macht eine Zinssenkung der SNB wahrscheinlicher. Es ist aber bislang, wie gesagt, nicht unser Hauptszenario.

Aber im Grunde genommen haben die Notenbanken ja kaum noch Handlungsspielraum bei den Zinsen. Ist das Pulver nicht verschossen?

Die Fed hat noch den grössten Handlungsspielraum. Das Pulver der EZB und der SNB ist eigentlich verschossen. Aber: Ich habe grossen Respekt vor der Kreativität der EZB. Der frühere EZB-Präsident Mario Draghi hat immer wieder bewiesen, wie flexibel und kreativ eine EZB sein kann. Und diese Kreativität bringt sicher auch die heutige EZB-Chefin Christine Lagarde mit. Welche Massnahmen die EZB noch zünden wird, bleibt eine Überraschung. Ich bin aber überzeugt, der EZB wird noch etwas einfallen.

Was könnte die EZB dann noch machen?

Wenn sie mich konkret fragen, könnte dies sein, dass sie das Emittentenlimit frühzeitig erhöht. Die EZB darf ja nur ein Drittel der Staatsanleihen eines Landes kaufen. Bei deutschen Bundesanleihen ist diese Grenze fast erreicht. Frau Lagarde könnte das Limit auf 40 oder gar 50 Prozent erhöhen. Das wäre natürlich ein deutliches Signal an die Finanzmärkte.

Wie wirken sich all die geldpolitischen Überlegungen in den nächsten Tagen auf die Aktienmärkte aus?

Wir könnten noch einige freundliche Tage am Aktienmarkt sehen, natürlich aufgrund der Hoffnung, dass die Notenbanken etwas machen. Das Gewinnwachstum in diesem Jahr wird aber allein schon aufgrund der unterbrochenen Lieferketten schwächer sein.

Steigende Märkte in den nächsten Tagen, aber nicht längerfristig also?

Die Finanzmärkte werden beobachten, wie sich das Coronavirus entwickelt und auf der Lauer liegen. Ein rasches Durchstarten auf die Niveaus von Jahresanfang ist aus diesem Blickwinkel wenig wahrscheinlich. Noch sind die Folgen des Virus' nicht vollständig abschätzbar.