Russland deckt derzeit ein Drittel des europäischen Gasbedarfs. Um diese Lieferungen bis Ende des Jahres grösstenteils zu ersetzen, braucht es neue Bezugsquellen für Flüssiggas (LNG). Die Dimensionen sind enorm: Was Europa will, entspricht beinahe den jährlichen Lieferungen an Südkorea, den drittgrössten Käufer des Energieträgers.
Eine Umlenkung von Handelsströmen in einem solchen Ausmass würde die derzeitige Marktstruktur erschüttern: Die Nachfrage würde das verfügbare zusätzliche LNG-Angebot bei weitem übersteigen und Europa würde anderen Abnehmern Lieferungen entziehen.
"Dies würde enormen Aufwärtsdruck auf die Spotpreise ausüben," so Saul Kavonic, Energieanalyst bei der Credit Suisse. Europa streite im Endeffekt mit den asiatischen Ländern darüber, wer das Zerschiessen der Nachfrageseite verhindert. "Es ist sehr ineffizient, wenn australisches LNG nach Europa geht, aber das könnte jetzt passieren. Die meisten Regeln der Energiemärkte wurden über Bord geworfen."
Dramatische Umwälzung
Die Folgen der Umwälzung könnten dramatisch sein: Höhere Preise und Engpässe bei der Energieversorgung würden asiatischen Volkswirtschaften belasten, die Gewinne schmälern und die Verbraucher mit hohen Stromrechnungen belasten. Schwellenländer wie Indien und Pakistan dürften am meisten leiden. Falls sie stattdessen auf schmutzigere Brennstoffe umstellen, hätte das ausserdem unerwünschte Folgen für das Klima.
Die Spotpreise für LNG erreichten diese Woche einen neuen Rekord. Der Preisanstieg bei Erdgas ist derweil noch dramatischer als der bei Rohöl - umgerechnet kostete Gas zwischenzeitlich mehr als 600 Dollar je Barrel (543 Euro).
Die weltweiten Gasvorräte sind bereits knapp. Als die Spannungen um die Ukraine zunahmen, bemühte sich Nordasien, seine Versorgung über langfristige Verträge festzuzurren. Die Pläne der EU zur Ersetzung russischen Gases würden die Bemühungen Asiens noch verschärfen, so Händler.
Die Krise wird Importeure veranlassen, ihre Abhängigkeit von einzelnen Ländern zu überdenken, so Meg O’Neill, Vorstandsvorsitzende von Woodside Petroleum.
"Die Welt wird nüchtern über den Weg zur Diversifizierung der Energieversorgung nachdenken und auf Länder wie die USA und Australien schauen, um zu sehen, wie sie gleichgesinnte Länder unterstützen können, ihre Energieversorgung zu sichern", sagte sie am Mittwoch auf einer Konferenz in Sydney.
Angebot hält nicht Schritt
Der geplant Anstieg der europäischen LNG-Importe bedeutet, dass die weltweite Nachfrage in diesem Jahr um fast 10 Prozent ansteigen dürfte. Die Erzeuger haben kurzfristig jedoch nur begrenzte Möglichkeiten, das Angebot auszuweiten. Ausserdem sind etwa 65 Prozent der weltweiten Mengen in langfristigen Verträgen gebunden.
Lieferanten in den USA, Afrika und dem Nahen Osten dürften am ehesten in der Lage sein, mehr LNG nach Europa zu schicken, allerdings auf Kosten der Mengen für Asien, so Nikos Tsafos, James R. Schlesinger Chair in Energy and Geopolitics am Center for Strategic and International Studies.
Die europäischen LNG-Importe stiegen zu Beginn des Jahres auf einen Rekordwert, da Händler Lieferungen aus den USA und anderen Regionen nach Europa umleiteten, um von den vergleichsweise günstigeren Preisen zu profitieren. Das wird nicht mehr lange so weitergehen: Kunden in Japan und China müssen ihre über den Winter aufgebrauchten Vorräte bald ersetzen.
Europa in Konkurrenz zu Asien
Europa wird Asien für zukünftige Lieferungen überbieten müssen, so Tsafos, was in einen Bieterkrieg bei ohnehin schon hohen Preisen münden dürfte. Ausgang ungewiss.
Laut BloombergNEF-Analystin Lujia Cao könnten sich einige der Käufer in Asien entscheiden, ihre Lieferungen an Europa abzutreten, um von den hohen Preisen zu profitieren. Versorger in Japan, Südkorea und Pakistan könnten dann allerdings auf die Verbrennung von Kohle und Heizöl umstellen - mit womöglich gravierenden Auswirkungen auf das Klima.
Weitaus schlimmer für die Regierungen in Asien dürften die steigenden Stromrechnungen für Haushalte und Unternehmen sein. Pekings Bemühungen etwa, die Wirtschaft Chinas zu stabilisieren, dürfte das erschweren.
Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden Treibstoffkosten führen bereits jetzt dazu, dass Japan, der zweitgrösste LNG-Importeur der Welt, etwa 80 Milliarden Dollar an Hilfe einsetzen muss, um seine schwächelnde Wirtschaft zu stützen, so ein Wirtschaftsberater des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe.
Grösste Verlierer sind Indien, Pakistan und Bangladesch
Die Regierungen in Nordasien und Europa könnten zusammenarbeiten, um die Versorgung ihrer Länder zu gewährleisten. Dennoch geht Europas Plan zur Steigerung der Importe auf Kosten der Schwellenländer. Die grössten Verlierer werden Indien, Pakistan und Bangladesch sein, die sich kurzfristige Lieferungen zu entsprechend hohen Preisen nicht leisten können.
Indien ist besonders gefährdet. Dort meiden Importeure die teuren Spot-Lieferungen bereits. Höhere Kraftstoffpreise zehren das verfügbare Einkommen der Verbraucher auf, das Rückgrat der Wirtschaft.
In Pakistan sind steigenden LNG-Preise bereits zum Politikum geworden und die Opposition wirft dem Regierungschef vor, Treibstofflieferungen schlecht zu managen. Europäische Lieferanten stornieren sogar geplante Mengen aus langfristigen Verträgen nach Pakistan und sind nicht in der Lage, Alternativen für das klamme Land zu finden.
"Im besten Fall bedeutet das, dass mehr Öl und Kohle verbrannt wird", so Tsafos vom CSIS. "Im schlimmsten Fall bedeutet es die Rationierung von Strom".
(Bloomberg)