Eine Krise der öffentlichen Gesundheit ist für die Pharmaindustrie immer auch eine Chance: Die Konzerne können ihre Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen, indem sie mit Medikamenten und Impfstoffen zur Stelle sind. Das ist diesmal nicht anders. Nur dass der Stresstest, der der Industrie mit Sars-CoV-2 bevorsteht, besonders hart ist. Denn das neue Coronavirus ist nicht weit weg wie frühere Virusausbrüche wie Ebola oder Sars, bei denen die Ausbreitung rechtzeitig eingedämmt und eine Pandemie verhindert werden konnte.
Diese Krise findet auch dort statt, wo die forschende Industrie zu Hause ist und wo sie auch noch immer einen guten Teil ihres Geldes verdient: in den USA und Europa.
Wie also schlägt sich die Industrie in der Krise um Sars-CoV-2?
Staaten und Stiftungen wie die Gates Foundation finanzieren die Forschung
Auf den ersten Blick: ganz gut. Bei der Impfstoffforschung werden gerade neue Massstäbe gesetzt. Das US-Biotechunternehmen Moderna brauchte nur 42 Tage, um nach der Entschlüsselung des Virus Sars-CoV-2 einen Impfstoff zu entwickeln. Das ist ein Rekord.
Mehr noch: Die Sars-Cov-2-Krise könnte sogar zum Beschleuniger einer neuen und – so die Hoffnung – sichereren Impfstoff-Technologie werden, bei der nicht mehr mit den Viren selbst oder Bestandteilen von ihm gearbeitet wird, sondern nur noch mit der mRNA, also dessen molekularer "Bauanleitung".
Und auch den Medikamenten tut sich einiges. Gilead testet, ob Remdesivir, ein antivirales Medikament, das auch schon bei Ebola getestet wurde – auch bei Coronavirus-Patienten wirkt. In China werden Dutzende von zugelassenen Medikamenten darauf getestet, ob sie womöglich bei Patienten wirken, die eine schwere Lungenentzündung entwickeln. Dutzende bereits zugelassene Medikamente werden in China darauf getestet, ob sie bei Patienten, bei denen die Erkrankung einen schweren Verlauf nimmt und die eine Lungenentzündung entwickeln. Actemra, ein Medikament gegen rheumatoide Arthritis von Roche, wurde von den chinesischen Behörden unter bestimmten Bedingungen bereits für die Behandlung von Sars-CoV-2-Patienten zugelassen.
Nur: Die Forschungsmaschine, die nun anläuft, wird stark von öffentlichen Geldern und von Stiftungen wie der Bill & Melinda Gates Foundation alimentiert. Denn auf der Agenda der Pharmaindustrie sind die Infektionskrankheiten weit nach hinten gerutscht, seit diese in den attraktiven Märkten in den USA und Europa weitgehende besiegt sind und sich damit deshalb nur schwer Geld verdienen lässt.
Infektionskrankheiten werden durch die industrielle Forschung vernachlässigt
Die Coronavirus-Krise spielt deshalb ein Malaise an die Oberfläche, das sonst nur Spezialisten beschäftigt: die Vernachlässigung der Infektionskrankheiten durch die industrielle Forschung. Beispiel Impfstoffe: Die Zahl der Konzerne, die dieses beinharte Geschäft überhaupt noch betreiben, lässt sich an einer Hand abzählen – GSK, Sanofi, Merck und Pfizer. Und auch diese Zahlen sprechen für sich: Der Marktforscher Evaluate Pharma bezifferte das Volumen für Deals, bei denen vielversprechende Wirkstoffe einlizenziert wurden, für das Gebiet der Infektionskrankheiten für das vergangene Jahr auf 280 Millionen Dollar.
Zum Vergleich: Beim Top-Therapiegebiet Krebs erreichten die Investitionen 31,4 Milliarden Dollar. Das ist ein Faktor von mehr als hundert.
Besonders dramatisch ist die Situation bei den Antibiotika, wo die Industrie noch immer keine überzeugende Antwort auf das Problem der Resistenzen gefunden hat. Doch auch bei den Impfstoffen gibt es Engpässe; müssen Ärzte und Spitäler auf andere Anbieter umsatteln und Impfschemata anpassen, weil die entsprechenden Produkte nicht erhältlich sind. Bei den antiviralen Medikamenten gab es zwar einige grosse Durchbrüche in den vergangenen Jahrzehnten – aber eben auch nur bei Infektionen wie HIV oder Hepatitis, die auch unsere Gesundheitssystem belasten.
Es braucht ein Geschäftsmodell für Infektionskrankheiten
Kein Wunder, werden nun bereits mehr staatliche Vorschriften für die Pharmaindustrie gefordert. Nur: Dekretieren kann ganz schnell zum Innovationskiller wenden. Staatlich gelenkte Forschung wird niemals die Innovationskraft entfalten wie die kommerziell orientierte. Das zeigt sich gerade jetzt: Schliesslich waren es kommerziell orientierte Konzerne, welche die Medikamente und Technologien entwickelten, die nun in China getestet werden und die uns nun womöglich aus der Klemme helfen.
Richtig ist hingegen: Bei den Infektionskrankheiten muss wieder mehr geforscht werden. Dafür braucht es ein funktionierendes Geschäftsmodell – und hier hat der Staat über die Medikamentenpreise sehr wohl eine Rolle zu spielen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf HZ.ch unter dem Titel: «Wie macht sich die Pharmaindustrie im Coronavirus-Stresstest?».