Sowohl die SVP als auch der Gewerkschaftsbund möchten einen Teil der Nationalbank-Gewinne der maroden AHV zukommen lassen. Das klingt auf den ersten Blick ja gut. Aber sowohl die Linken als auch die Rechten stellen sich leider die falsche Frage. Es ist letztlich kaum entscheidend, ob pro Jahr zwei Milliarden Franken – wie von den Gewerkschaften ins Auge gefasst - aus dem Nationalbankgewinn (beziehungsweise aus Negativzinsen) in die AHV fliessen.
Viel wichtiger ist die Frage, ob die aktuelle Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) noch sinnvoll ist. Sollte sie mit ihrer Politik falsch liegen, und dies befürchten auch namhafte Ökonomen, geht es um viel mehr als bloss um zwei Milliarden Franken pro Jahr.
In den USA und in der EU ist die Teuerung massiv gestiegen (USA 6,8 Prozent, Deutschland 5,2 Prozent). Während US-Notenbankchef Jerome Powell inzwischen einräumt, das Problem unterschätzt zu haben, vertritt die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, nach wie vor die Auffassung, die Inflation sei kein Problem. Dies dürfte allerdings kaum das Resultat fundierter ökonomischer Analysen sein. Es ist vielmehr Ausdruck davon, dass die hohe Verschuldung vieler europäischer Staaten Zinserhöhungen, welche eigentlich notwendig wären, um die Inflation zu bekämpfen, politisch kaum zulässt. Zu gross ist die Angst davor, dass Staaten wie Italien oder Frankreich die Zinslast nicht mehr tragen könnten. Eine Angst, die allerdings erst dann wirklich begründet wäre, wenn die EZB mit der Anpassung ihrer Politik zu lange zuwarten würde, so dass sie dann mit einer Notbremse überreagieren müsste. Anders ausgedrückt: Die Juristin Lagarde droht das Problem zu verschärfen statt zu lösen.
Was hat das mit der Schweiz zu tun? Die Schweizerische Nationalbank unter Thomas Jordan folgt hilflos der EZB. Im Bestreben, ja nichts zu unternehmen, was das Wachstum der Schweizer Wirtschaft auch nur im Ansatz bremsen könnte, betet Jordan seit Jahren mantramässig vor, dass alles getan werden müsse, um gegen die zu hohe Bewertung des Schweizer Frankens vorzugehen. Dabei bleibt der SNB-Chef inzwischen den Beweis schuldig, dass der Franken überhaupt noch überbewertet ist. Aus den Kaufkraftparitäten – dem für derartige Analysen am häufigsten angewendeten Indikator – lässt sich dies jedenfalls nicht mehr so eindeutig ablesen. Dass der Franken stärker wird, wenn die Teuerung in den USA und in der EU höher ist als in der Schweiz, ist durchaus normal. Das bestreitet ja auch Jordan nicht. Aus der Tatsache, dass die Schweiz nach wie vor riesige Exportüberschüsse erzielt, lässt sich zudem ableiten, dass es um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft nicht so schlecht stehen kann.
Nicht umsonst bezichtigen die USA die Schweiz der Währungsmanipulation. Damit haben sie ja nicht ganz unrecht. Kommt hinzu, dass eine wachsende Zahl von Schweizer Unternehmen aus immer mehr Branchen über einen Mangel an Fachkräften klagt. Das deutet ja auch nicht gerade darauf hin, dass die Nationalbank die Schweizer Wirtschaft um jeden Preis stützen müsste. Im Gegenteil.
Es dürfte ganz anders kommen, als Lagarde und Jordan uns weismachen wollen. Lieferengpässe und Fachkräftemangel werden die Inflation weiter befeuern. Auch in der Schweiz.
Und damit sind wir wieder bei den zwei Milliarden Nationalbank-Gewinn, die verteilt werden sollen: Gemessen am Bruttoinlandprodukt von über 700 Milliarden Franken machen ein Prozent Teuerung 7 Milliarden Franken aus. 5,2 Prozent Teuerung , wie in Deutschland, wären bereits 35 bis 40 Milliarden. Gemessen daran sind die zwei Milliarden, die für die AHV zur Diskussion stehen, nicht der Rede wert.
Mit der aktuellen Politik unterstützt die SNB einseitig die Interessen der Schuldner. Dies führt insbesondere auch zu massiven Preissteigerungen im Immobilienmarkt, wie die SNB selbst inzwischen einräumt. Dies birgt enorme Risiken, wobei die Nationalbank dabei immer nur von den Schuldnern spricht. Leider werden aber auch die Mieter, und damit die Mehrheit der Bevölkerung, die Folgen der durch die Negativzinsen befeuerten Immobilienpreise schmerzlich zu spüren bekommen, sobald es doch einmal zur Wende kommt und die Zinsen nachhaltig steigen. Je länger die Nationalbank damit zuwartet die Leitzinsen von aktuell minus 0,75 Prozent wenigstens mal auf null Prozent zu erhöhen, desto schmerzlicher wird dieser Prozess sein.
Ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Aber im schlechtesten Fall drohen der Schweiz soziale Unruhen, weil die Mietpreise die Teuerung massiv in die Höhe getrieben haben. Kommt hinzu, dass die Banken wegen der Negativzinsen zahlreiche Sparer in riskante Aktienanlagen getrieben haben, womit bei einer stärker wachsenden Inflation und bei steigenden Zinsen Verluste befürchtet werden müssen. Auch da gilt: Je länger die Phase der Negativzinsen noch anhält, desto mehr Menschen erliegen der Verlockung, ihre Ersparnisse in Aktien oder vielleicht sogar in Kryptowährungen anzulegen, obwohl sie mögliche Verluste auf solchen Geldanlagen nicht verkraften könnten.
Gewerkschaften und Sozialdemokraten würden gut daran tun, die engstirnige Geldpolitik der Nationalbank in Frage zu stellen. Damit würden sie dem Normalverdiener einen weitaus grösseren Gefallen erweisen als mit der Forderung nach jährlich zwei Milliarden aus dem Nationalbank-Gewinn. Dies umso mehr, als mit einer Normalisierung der Geldpolitik ja die Negativzinsen wegfallen würden. Und weil die immensen weltweiten Schuldenberge dereinst zu einer grossen Finanzkrise führen dürften, werden auch die aktuell riesigen Nationalbank-Gewinne wie Schnee an der Sonne zusammenschmelzen. Deshalb ist eine AHV-Finanzierung mit Nationalbank-Gewinnen Unsinn. Kein Unsinn wäre es aber, die sich abzeichnende Inflation frühzeitig zu bekämpfen. Davon hätten die meisten Schweizer wesentlich mehr als von einem Streit über vorübergehende Nationalbank-Gewinne.
André Michel, lic.rer.pol. mit Schwerpunkt Finanzwissenschaft, ist Autor/Journalist und ehemaliger Geschäftsführer von cash.