Seit Jahren streiten sie. Arbeitgeber mit Gewerkschaftern, Linke mit Rechten. Sie streiten über eine Reform der Pensionskassen. Was bei der AHV aufgegleist ist – zuletzt dank der Abstimmung vom 19. Mai. –, ist in der beruflichen Vorsorge (BVG) jedoch noch Jahre entfernt. Optimisten rechnen damit, dass neue Regeln im Jahr 2023 in Kraft treten könnten, wenn alles perfekt läuft. Pessimisten rechnen gar nicht mehr.
Streitpunkt ist vor allem der Umwandlungssatz, der die Höhe der Rente definiert. Zuletzt wurde dieser 2004 auf 6,8 Prozent festgelegt. Seither gilt: Aus 100 000 Franken gespartem Guthaben werden 6800 Franken Jahresrente. Mindestens. Dass das zu viel ist, gilt als unbestritten. Bei der heutigen Lebenserwartung müssten die Pensionskassen das Geld zu 5 Prozent sicher anlegen können, damit die Rechnung aufgeht, sagt Swiss-Life-Manager Hans-Jakob Stahel. Schon zu Zeiten mit höheren Zinsen war das nur schwer möglich. Mit Negativzinsen erst recht nicht mehr.
Profitiert haben die Kinder der Nachkriegszeit. Nicht nur wuchsen sie in einer Zeit wachsender Wirtschaft und steigender Löhne auf. Sie konnten auch mit den hohen Umwandlungssätzen in Pension gehen. Mit Rentenversprechungen, die nun Löcher reissen.
2018 fehlten 5,1 Milliarden Franken, um die laufenden Renten zu finanzieren, wie der Bericht der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) festhält. Im Jahr zuvor waren es sogar 6,6 Milliarden. Bezahlt haben das jene, die noch arbeiten und eigentlich für die eigene Rente ansparen sollten. Obwohl nicht vom Gesetz vorgesehen, wird Geld zwischen den Generationen umverteilt. Die Jungen zahlen heute nach, weil die Alten einst zu wenig eingezahlt haben.
Der Generation 50 plus fehlen Zinsen
Am stärksten betroffen sei wohl die Generation 50 plus, sagt Thomas Gerber, Chef Lebensversicherungen bei Axa Schweiz. Diese leidet darunter, dass die lange angesparten Gelder in den letzten Jahren kaum verzinst wurden – was vor allem in den späten Jahren der Karriere wichtig wäre. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie mit gekürzten Umwandlungssätzen in Rente gehen wird. Diese wählerstarke Generation hat alle Anreize, Reformen aufzuschieben. Wie schon Generationen vor ihnen. Und jene bezahlen zu lassen, die jünger sind.
Dabei läuft die Reform längst. Gemerkt haben es erst die wenigsten, denn formell gibt es noch immer die 6,8 Prozent und den jährlich festgelegten Mindestzins. Doch faktisch halten sich die meisten Pensionskassen schon lange nicht mehr an die hehren Ziele.
Zum einen ziehen die Vorsorgewerke Geld über versteckte Sanierungsbeiträge ab. Etwa über Risikoprämien für Todesfall oder Invalidität, die höher sind als die eigentlichen Risiken. Damit schreiben sie Gewinne, die zum Stopfen der Löcher verwendet werden. Ein Geheimnis ist das nicht. Die Versicherer reden offen darüber, jeder Politiker kennt die Zahlen.
Das Gleiche gilt für die Zinsen. Die Guthaben könnten höher verzinst werden, wären da nicht die Rentenlöcher. Kurzfristig tut das nicht weh. Langfristig fehlt den heute Werktätigen damit aber viel Kapital für die Rente. "Wir könnten 1,5 Prozentpunkte mehr Zins bezahlen, wenn die Transfers nicht wären", sagt Helvetia-Aktuarin Hedwig Ulmer.
Die grösste Illusion wird aber um den Umwandlungssatz betrieben. Die berühmten 6,8 Prozent bekommt nur noch ein kleiner Teil der Neurentner. Die real existierenden Umwandlungssätze wurden längst gesenkt – tief unter das politisch so heftig umstrittene Niveau.
Zuerst senkten betriebliche Pensionskassen die Umwandlungssätze. Laut Swisscanto-Studie betrugen sie 2018 im Schnitt noch 5,87 Prozent. Nun hat als erster Vollversicherer die Helvetia mit einem radikalen Modell nachgezogen. Bis 2023 senkt sie den Umwandlungssatz im Obligatorium auf 5,6 Prozent und im Überobligatorium sogar auf 4,4 Prozent (zur Definition des Obligatoriums siehe Text unten). Wer Guthaben hat, das zur Hälfte aus überobligatorisch einbezahl ten Geldern besteht, kommt so noch auf einen Umwandlungssatz von 5 Prozent. Und damit auf 26 Prozent weniger Rente als mit dem 6,8er-Satz. Was in Bern noch als politisch unverhandelbar gilt, hat die Helvetia gerade eingeführt.
Und sie wird nicht allein bleiben. "Auch die anderen Vollversicherer haben zu hohe Umwandlungssätze", sagt Helvetia-Manager Donald Desax. Swiss-Life-Manager Stahel bestätigt: "Kommt nicht bald eine substanzielle Reform, werden wir auf ein ähnliches Modell wechseln." Noch wandelt der grösste Lebensversicherer seine obligatorischen Guthaben mit 6,8 Prozent in Renten um. Doch der Druck ist hoch. 2018 verschob die Swiss Life in den Büchern mehr als 1 Milliarde Franken von den Werktätigen an die Rentner.
Warum aber können Pensionskassen, was die Politik nicht will? Der Trick mit den tiefen Umwandlungssätzen ist einfach: Die hohen Mindestsätze gelten nur für das gesetzlich vorgeschriebene Obligatorium. Alles Freiwillige ist nicht geregelt. Und so werden überobligatorische Guthaben faktisch eingezogen, um die laufenden Renten zu finanzieren.
Überobligatorium gibt kaum Rente
Als Beispiel ein Rentner mit 150 000 Franken in der Pensionskasse, von denen 50 000 als obligatorisch gelten. Im Helvetia-Modell erhält er ab 2023 eine Jahresrente von 7800 Franken. Weil das mehr ist als die 6800 Franken, die er aus dem Obligatorium erhalten muss (6,8 Prozent von 100 000 Franken), geht die Rechnung auf. Die 50 000 freiwillig einbezahlten Franken bringen ihm aber lediglich ein Plus von 1000 Franken Rente, was einem Umwandlungssatz von 2 Prozent entspricht. Hätte er nur 20 000 Franken im Überobligatorium, würden diese bei der Pensionierung sogar komplett verschwinden. Die Rente wäre nicht höher als ohne die 20 000 Franken.
Das ist die Umverteilung von oben nach unten. Um wie viel Geld es dabei geht, weiss keiner. Man habe keine Zahlen, sagt OAK-BV-Direktor Manfred Hüsler. "Klar ist nur, dass es sie gibt." Auch Swiss-Life-Manager Stahel konstatiert: "Elemente aus dem Überobligatorium helfen, das Obligatorium zu finanzieren. Das ist bei allen Kassen so." Betroffen sind durchaus auch Menschen mit tiefen Löhnen. Nämlich dann, wenn ihre Arbeitgeber versucht haben, mit freiwillig höheren Lohnabzügen mehr Kapital anzusparen.
Die Transfers haben Folgen. Nicht nur für jene, die sie finanzieren, sondern auch für jene, die sie erhalten sollen. Firmen mit einer schlechten Personalstruktur finden kaum noch Anschluss an Pensionskassen. "Wenn einer zu viele alte Angestellte hat oder solche mit wenig Überobligatorium, nehmen wir ihn nicht auf", sagt Stahel. Und Helvetia-Manager Desax sagt, man habe 2018 bei der Hälfte aller Anfragen nicht einmal eine Offerte gemacht, da diese "zu hohe Verluste" beim Verrenten auslösen würden. Viele KMU können die Pensionskasse faktisch nicht mehr wechseln.
An einer Pressekonferenz sprach Helvetia-Manager Desax unlängst Klartext. Es sei "haarsträubend", dass sich die Politik um Reformen drücke. "Über die Lösung kann man ja unterschiedlicher Meinung sein, aber es gibt ein Problem." Eines ist klar: Der hohe gesetzliche Umwandlungssatz führt weniger dazu, dass generell höhere Renten bezahlt werden. Sondern vielmehr dazu, dass nicht mehr die dafür bezahlen, die davon profitieren.
Altersguthaben: Was ist eigentlich obligatorisch? Pensionskassen In der beruflichen Vorsorge wird zwischen Obligatorium und Überobligatorium unterschieden. Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, einen gewissen Prozentsatz des Lohnes in eine Pensionskasse einzuzahlen. Diese Mindesteinzahlungen bilden das Guthaben aus dem Obligatorium. Der Arbeitgeber kann diese Prozentsätze allerdings freiwillig erhöhen und so das Rentenguthaben der Angestellten um ein Überobligatorium erhöhen. Zudem müssen auf den ersten 24'885 Franken Jahreslohn keine Pensionskassenbeiträge bezahlt werden. Berücksichtigt ein Arbeitgeber auch diese 24'885 Franken, gelten die Einzahlungen ebenfalls als überobligatorisch. Auch freiwillige Einzahlungen in die Pensionskasse, um "Deckungslücken" zu verringern, gelten meist als überobligatorisch. Gesetzliche Vorgaben zu Mindestzins und Umwandlungssatz betreffen nur das Obligatorium. Im Überobligatorium können Pensionskassen die gesetzlichen Werte unterschreiten. |
Dieser Beitrag erschien zuerst in der "Handelszeitung" unter dem Titel "Strapazierte Solidarität".