cash.ch: Herr Lück, wie schwierig ist es derzeit, den Leuten einen Aktienkauf zu empfehlen?

Martin Lück: Es ist sicher nicht so, dass man den Leuten nun sagen kann: 'Das ist jetzt der Tiefpunkt und Ihr müsst jetzt alle sehr beherzt zugreifen'. Die Risiken sind noch immer schwer einzuordnen. Es ist kaum zu beurteilen, ob der Boden erreicht ist oder ob es noch weiter runter gehen kann.

Welche Risiken und Unsicherheiten meinen Sie hauptsächlich? 

Wir haben nach wie vor anhaltende Lieferkettenprobleme, Unsicherheiten bezüglich des Ukrainekrieges und nach wie vor eine nicht ganz klar einzuschätzende Geldpolitik der Zentralbanken. Gerade die Folgen der Energiepreise, also letztlich die Folgen des Krieges, könnten noch sehr viel stärkere Auswirkungen haben als wir es bislang annehmen. 

Dennoch: Seit einiger Zeit herrscht wieder mehr Optimismus an den Börsen, weil die US-Notenbank bei den Zinsen geordnet vorgeht. War der Markt zuvor zu pessimistisch?

Vermutlich. Die Federal Reserve hat ja eine starke Wende hingelegt. Erst sagte sie, die Inflation sei transitorisch. Dann kam im Dezember eine sehr abrupte Drehung und die Fed vermittelte dem Markt das Gefühl, die Fed sei selber hinter der Kurve zurück. Gleichermassen stieg dann auch die Inflation mittels Energiekostenschock aufgrund des Kriegs. Der Fed ist es nun aber gelungen, den Markt zu überzeugen, dass sie wieder vor der Kurve ist. Unsere Meinung ist nach wie vor die, dass die Fed und auch andere Notenbanken die Erwartungen vor einer zu restriktiven Geldpolitik zu stark forciert haben. 

Ist der Optimismus oder Zwischenoptimismus berechtigt?

Im Prinzip schon. Denn die Fed und andere Notenbanken werden die zu erwartende Inflationsabschwächung und die Konjunkturverlangsamung zum Anlass nehmen, um aus der 'scharfen Ecke' der Geldpolitik wieder herauszukommen. Aber wir haben nach wie vor das Risiko einer Stagflation, daher ist es auch schwierig zu sagen, ob man wieder einsteigen soll an den Märkten oder nicht. Das ganze Jahr war bislang geprägt durch die Stagflationsangst. Sowohl Aktien wie Obligationen sind stark gesunken. 

Wie reagieren die Blackrock-Kunden in dieser Zeit?

Wir sind vor allem ein Business-to-Business-Unternehmen, wobei ich ab und zu auch Kontakt habe zu Privatanlegern. Meine Wahrnehmung ist, dass es über alle Kundengruppen hinweg grosse Unsicherheit gibt. Der Informations- und Orientierungsbedarf von Institutionellen Investoren ist ähnlich hoch wie derjenige von Privatanlegern.

Falls jemand dennoch Aktien kaufen will mit längerfristigem Horizont: Welche Titel empfehlen Sie?

Qualitätsaktien reagieren besser auf unsichere Zeiten. Das heisst: Wir achten auf ein solides Geschäftsmodell des Unternehmens, auf eine solide, durchfinanzierte Bilanz und auf die Fähigkeit, höhere Preise durchsetzen zu können. Vor allem dies kann für die nächsten Quartale oder Jahre entscheidend sein. Auch bei Technologieunternehmen gibt es Geschäftsmodelle, die sehr stark gefragt sind. Dazu kommen Unternehmen aus dem Bereich der nachhaltigen Energien. Das sind nicht bloss Firmen, die Solarpanels oder Wärmepumpen herstellen. Beispielsweise werden wir auch vermehrt nachhaltige Rohstoffproduzenten brauchen.

Weshalb?

Wir werden wohl eine gigantische Nachfrage haben nach so banalen Dingen wie Kupfer. Windenergie von der Nordsee beispielsweise werden über Kupferleitungen nach Süden transportiert werden. Auch Industriemetalle und Baukomponenten werden von der grünen Technologiewende profitieren. Zudem ist der ganze Bereich Gesundheit und Health Science wichtig für Anleger, unter anderem weil er einen geringen CO2-Fussabdruck hat.

Was muss hauptsächlich passieren, damit das Vertrauen der Investoren wieder zurückkommt?

Wir leben in Zeitenwenden, und da werden wir einige strukturelle Probleme nicht so schnell los. Die Zeit der Friedensdividende, von der wir nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgegangen waren, war eine Illusion, wie wir nun feststellen mussten. Wir wissen auch, dass wir nicht mehr ewig Zeit haben, den Klimawandel zu bekämpfen. Und wir haben eine völlig andere Rolle von Ostasien, vor allem Chinas. Dazu kamen die Krisen Corona und der dreiste, menschenverachtende Angriffskrieg Russlands. Vor allem die letzten beiden Dinge müssen zu Ende gehen, bevor hauptsächlich Privatanleger vorab in Europa wieder Vertrauen fassen. 

Hat Blackrock eine Meinung oder Einschätzung, wie lange der Krieg dauern könnte?

Wir haben als Haus zu solchen politischen Themen häufig keine Meinung. Aber wir haben sehr gut informierte Leute. Ein mögliches Kriegsende beurteilt jeder ein bisschen anders. Dass wir diesen Krieg verurteilen, steht ausser Frage. Unser Chairman und CEO (Larry Fink, Anm. der Red.) hat sich diesbezüglich ja deutlich geäussert. Wir sagen auch, dass Russland diesen Krieg verlieren muss. Meine persönliche Einschätzung zu Ihrer Frage: Nach einigen Eroberungen in jüngster Zeit durch die russische Armee stellt sich die Frage, ob Russland nun den ganzen Dombass zu erobern versucht. Und was noch entscheidender sein wird: Wie kommt Russland weiter voran Richtung Odessa? Es besteht das grosse Risiko, dass Odessa ein zweites Mariupol wird. Der Krieg wird noch lange dauern. Sicher noch dieses Jahr und vermutlich weit darüber hinaus. Dann muss man sich fragen: Gewöhnen sich die Menschen an den Krieg?

Eben: Ist es nicht so, dass die Unterstützung für die Ukraine langsam bröckelt und der Krieg mit der Zeit den Schrecken verliert?

Wenn man nicht direkt beteiligt ist vielleicht schon. Russland könnte seine Angriffsziele wohl erreicht haben, wenn sie das industrielle Herz der Ukraine, nämlich den Dombass, erobert hätte und den Zugang zum Schwarzen Meer kontrollieren würde. Viele Produkte, gerade landwirtschaftliche Erzeugnisse, verlassen von den Häfen am Schwarzen Meer die Ukraine. Dann wäre die Ukraine ökonomisch nicht überlebensfähig. Das wäre dann praktisch ein Diktatfrieden und würden im Grunde genommen Putin das geben, was er haben will. Es ist breiter Konsens, dass dies nicht passieren darf. Gleichzeitig nimmt man noch immer viel Rücksicht auf Russland. Man macht noch zu viel Appeasement. 

Blackrock-Chef Larry Fink rief nach der Ukraine-Invasion das Ende der Globalisierung aus. Sehen Sie das auch so?

Ich würde es ergänzen: Es ist das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen. Die Globalisierung der letzten 20 Jahre wurde extrem geprägt durch den Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2001. Es war eine Globalisierung auf 'Speed' sozusagen, die auch sehr stark getrieben wurde durch die Zentralbankenpolitik und die Deregulierung. Diverse Indizes zeigen, dass die Globalisierung ungefähr im Jahr 2011 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Sie blieb dann hoch bis heute, und nun bricht sie ein wenig ab aufgrund der disruptiven Schocks. Die Globalisierung wird in Zukunft anders sein, der Warenaustausch wird stärker innerhalb einer Region stattfinden. Innerhalb von Europa zum Beispiel.

Wie steht Blackrock zu China? Ist das Land aus ethisch-moralischen Gründen noch investierbar?

Diese Frage stellen sich viele Investoren implizit. China hat einen Anteil von etwa 20 Prozent an der Weltwirtschaftsleistung. China hat aber einen Anteil von 5 bis 6 Prozent an den globalen Portfolios, Aktien und Obligationen. Das ist ein grosses Missverhältnis.

Warum?

Viele Investoren sagen sich: Die Risikoprämie für China muss so viel höher sein, weil man nicht weiss, was die Kommunistische Partei morgen macht. Diesem müssen sich Portfoliomanager auch bei anderen Ländern bewusst sein. Zum Beispiel, wo der Regenwald unbedacht abgeholzt wird. Allgemein glaube ich, dass die Kapitalmärkte BlackRock wie auch anderen Marktteilnehmern langfristig die Möglichkeit bieten, einen positiven Einfluss auf beispielsweise chinesische Unternehmen auszuüben, indem sie diese dazu ermutigen, ihre Transparenz- und Berichtsstandards zu erhöhen, um Zugang zu ausländischem Kapital zu erhalten. Und das vor allem mit Blick auf die Verschiebung der Anlegerschaft auf die Millennials und auf die Frauen.

Martin Lück ist Chefanlagestratege für Deutschland, Schweiz, Österreich und Osteuropa bei Blackrock, dem grössten Vermögensverwalter der Welt. Der promovierte Ökonom arbeitete zuvor bei der UBS Deutschland, wo er als Chefökonom für Deutschland und Mitglied des European-Economics-Teams beschäftigt war. Zu Lücks früheren beruflichen Stationen zählen Kepler Equities, CAI Cheuvreux und Schröder Münchmeyer Hengst Research.