Schon seit Wochen kursieren im Internet geheime Dokumente von US-Stellen - angeblich vom Nachrichtendienst CIA und vom Pentagon - zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Informationen zu Waffenlieferungen, Einschätzungen zum Kriegsgeschehen. Aber auch Details zu angeblichen Spähaktionen der USA gegen Partner. Unklar ist, was davon authentisch ist und was möglicherweise bearbeitet worden sein könnte. Für die US-Regierung ist die Sache allerdings so oder so grösstmöglich unangenehm. Es stellen sich Fragen dazu, wie verlässlich die Amerikaner sind, wie gut sie ihre Geheimnisse und die ihrer Partner schützen und wie loyal sie Verbündeten gegenüber sind.

US-Medien berichteten kurz vor Ostern erstmals über das Leck, ohne die Dokumente selbst zu veröffentlichen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erfuhr nach eigenen Angaben erst zu dem Zeitpunkt, etwa vor einer Woche von dem Datenleck - obwohl das Material da schon wochenlang im Netz umherging. Nun rotiert die Regierung, um Partner zu besänftigen und vor allem, um möglichst schnell die undichte Stelle zu finden. Das Justizministerium hat Ermittlungen eingeleitet.

Biden bemühte sich am Donnerstag, die Gemüter zu beruhigen. Nach seinem Wissen seien in den Unterlagen keine Echtzeit-Informationen enthalten, die grosse Konsequenzen hätten, sagte er am Rande eines Besuches in Irland, wo ihn die Affäre einholte. Er sei nicht besorgt über das Datenleck an sich, aber darüber, dass es dazu gekommen sei. Und Biden betonte mit Blick auf die Ermittlungen: "Sie kommen der Sache näher." Konkreter wurde er nicht.

Der Bericht der "Washington" legt umfangreiche Details über den möglichen Maulwurf offen. In dessen Chat-Gruppe hätten sich rund zwei Dutzend junge Leute mit Vorliebe für Waffen und Militärausrüstung zusammengeschlossen. Die Runde habe sich 2020 während der Corona-Pandemie gegründet. "OG", Anfang bis Mitte 20, wird beschrieben als charismatischer Waffennarr mit düsteren Ansichten und einem Hang zu Verschwörungstheorien rund um die US-Regierung, die Geheimdienste und die Strafverfolgungsbehörden.

Andere in der Gruppe hätten ihn bewundert. "Er ist fit. Er ist stark. Er ist bewaffnet. Er ist trainiert. So ziemlich alles, was man von einem verrückten Film erwarten kann", sagte eines der Mitglieder. "OG" habe der Gruppe erzählt, dass er auf einem Militärstützpunkt, wo er arbeitete, an die Dokumente gelangt sei. Dort habe er laut eigener Darstellung Teile des Tages in einer abgesicherten Einrichtung verbracht, in der Mobiltelefone und andere elektronische Geräte verboten gewesen seien, mit denen Fotos oder Videos gemacht werden können. Daher habe er die Dokumente zunächst abgeschrieben. Über den gesamten Winter habe er so in der Gruppe seine Posts abgesetzt. Ihm sei es wohl darum gegangen, "vor seinen Freunden zu prahlen", aber auch darum, sie zu informieren, sagte ein Mitglied der Gruppe.

Als sich das Abschreiben als zu mühsam erwies, begann er laut der Zeitung, Bilder zuvor ausgedruckter Papiere zu posten - und ging dabei offensichtlich auch ein grosses Risiko ein, ertappt zu werden: Im Hintergrund einiger der Fotos, die "OG" den anderen per Video zeigte, waren demnach Möbelstücke und Gegenstände zu sehen, die die Fahnder auf seine Spur bringen könnten. Etwa auch eine Tube Klebstoff, Handbücher oder ein Nagelknipser. Ausserdem könnten Ausdrucke von sensiblem Material in abgesicherten US-Einrichtungen teils nachverfolgt werden. Die Zeitung schrieb, "OG" sei zwischenzeitlich frustriert gewesen, dass die anderen Mitglieder der Gruppe seinen Enthüllungen nicht genug Aufmerksamkeit schenkten.

Ex-Geheimdienstkoordinator James Clapper sagte dem Sender CNN, für ihn klinge es so, als habe dieser "OG" ein gewisses "Mass an Narzissmus" gemeinsam mit anderen Whisteblowern vor ihm. "Es gibt ein Ego-Element, sich selbst wichtig zu fühlen, dadurch dass man Zugang zu solchem Material hat und es offenlegt."

Mitte März habe "OG" aufgehört, Dokumente mit der Chat-Gruppe zu teilen, berichtete die "Washington Post". Grund war demnach, dass jemand aus dem Kreis - dem auch Nutzer aus Russland und der Ukraine angehört haben sollen -, Ende Februar Unterlagen in einer anderen Gruppe gepostet und somit die abgesprochene Geheimhaltung gebrochen hatte. Anfang April, kurz bevor die "New York Times" über das Leck berichtete, habe "OG" verzweifelt gewirkt. "Er sagte, es sei etwas passiert und er bete zu Gott, dass dieses Ereignis nicht eintrete", zitierte die Zeitung ein minderjähriges Mitglied der Gruppe.

Über die Motivation von "OG" gibt es laut dem Blatt kein klares Bild. Feindselig gegenüber der US-Regierung sei er trotz seiner düsteren Ansichten nicht gewesen, hiess es. Er sei nach Überzeugung der Chat-Nutzer auch kein russischer oder ukrainischer Agent gewesen.

Unklar ist auch, was hinter der Abkürzung steckt - ob ein Name oder eine andere Wendung. Im Englischen steht "OG" umgangssprachlich für "Original Gangster". Der Begriff beschreibt jemanden, der als Pionier oder Anführer in einem bestimmten Bereich gilt, als jemanden, der besonders authentisch oder besonders gut in etwas ist.

Ob tatsächlich ein profilierungssüchtiger junger Mann mit diesem Spitznamen hinter der Affäre steckt, ist aber noch nicht offiziell belegt. Das "Wall Street Journal" schrieb unter Berufung auf frühere Verteidigungsbeamte, die Erzählung rund um Discord könne womöglich auch das Manöver eines raffinierten Gegners sein, um Ermittler auf eine falsche Fährte zu locken./jv/DP/jha

(AWP)