Ökonomen rechnen deshalb für die erste Zinssitzung nach der Sommerpause am Donnerstag mit einer zweiten kräftigen Zinserhöhung nach der im Juli eingeleiteten Zinswende. Mehrere Notenbankchefs der Euro-Länder hatten sich sogar dafür stark gemacht, auch über einen ungewöhnlich grossen Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten zu diskutieren. Es wäre die kräftigste Zinsanhebung seit Einführung des Euro-Bargelds.

Erwartet wird, dass am Donnerstag hart über die Stärke des Zinsschritts gerungen wird. "Es ist daher nicht auszuschliessen, dass es sogar zu einer Kampfabstimmung mit einer knappen Entscheidung kommt," meinen die Experten der Helaba.

Die US-Notenbank hatte zuletzt im Kampf gegen die ausufernde Inflation gleich zwei mal hintereinander die Zinsen um 0,75 Prozentpunkte erhöht. "Auf den Fersen der US-Notenbank dürfte die Europäische Zentralbank die Zinsen deutlich schneller anheben, als sie bis vor zwei Wochen prognostiziert hatte", meint etwa der Chefökonom der Berenberg Bank, Holger Schmieding.

Jumbo-Zinsschritt wahrscheinlich

An den Börsen galt bis vor kurzem eine Anhebung wie im Juli um 0,50 Prozentpunkte als ausgemachte Sache. Doch der neuerliche Inflationsschub im Euro-Raum auf eine Rekordrate von inzwischen 9,1 Prozent hat den Druck auf die EZB noch einmal erhöht. Am Geldmarkt wurde zuletzt die Wahrscheinlichkeit für einen Jumbo-Zinsschritt mit rund 80 Prozent taxiert.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat sich mit Äusserungen zur weiteren Zinsentwicklung zuletzt stark zurückgehalten. Dafür sind aber andere Währungshüter vorgeprescht. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel forderte nach Bekanntwerden der neuen Inflationszahlen für die Euro-Zone einen kräftigen Zinsschritt. EZB-Chefökonom Philip Lane warnte unlängst allerdings vor zu grossen Schritten und sprach sich für ein gleichförmiges Tempo aus, das weder zu langsam noch zu schnell sein sollte.

Neue Prognosen dürften Konjunkturbild schärfen

Entscheidungshilfen dürften die neuen Inflations- und Wachstumsprognosen der EZB-Ökonomen bieten, die zur Sitzung vorliegen werden. "In diesem Zusammenhang gehen wir davon aus, dass der Wachstumsausblick nach unten und die Inflationsaussichten nach oben korrigiert werden", schätzt DZ-Bank-Analyst Christian Reicherter. "Eine wahrlich ungünstige Kombination."

Viele Ökonomen gehen inzwischen davon aus, dass die Euro-Zone im Herbst in eine Rezession abrutschen wird. Auf der anderen Seite treibt die Währungshüter die Sorge um, dass die langfristigen Inflationserwartungen allmählich aus dem Ruder laufen könnten. Bislang liegen sie nur leicht über dem Inflationsziel der EZB von zwei Prozent.

Möglicher Kompromiss

Die Experten der Helaba weisen darauf hin, dass aus Sicht der Vertreter einer straffen Geldpolitik das schnelle Zurückdrängen der Inflation notwendig ist. Das Umfeld für drastische Schritte sei aber schwierig. "Immerhin befindet sich Europa quasi in einem ökonomischen Abnutzungskrieg mit Russland."

Aus dieser Perspektive solle einerseits alles unterlassen werden, was die eigene Wirtschaft kurzfristig weiter schwäche. "Andererseits hat die anhaltend hohe Inflation das Potenzial, die Wirtschaft langfristig zu destabilisieren", warnen sie.

Viele Bankhäuser rechnen inzwischen mit einer Zinsanhebung um 0,75 statt um 0,50 Prozentpunkte. "Wir denken, das ist eine enge Kiste mit guten Argumenten auf beiden Seiten", meinen etwa die Ökonomen von Morgan Stanley. "Am Ende aber glauben wir, dass sich diejenigen, die eine grössere Anhebung befürworten, durchsetzen, da der September die beste Gelegenheit bietet, ein klares Signal der Entschlossenheit zu senden." Der jüngsten Reuters-Umfrage zufolge gehen 30 von 61 befragten Ökonomen inzwischen von einer Anhebung um 0,75 Prozentpunkte aus - 27 rechnen mit 0,50 Prozentpunkten. Nur vier erwarten 0,25 Punkte.

Aus Sicht von Berenberg-Bank-Ökonom Schmieding könnte auf der Sitzung am Ende eine für die EZB typische Einigung stehen, die sowohl Vertretern einer straffen als auch Befürwortern einer lockeren Geldpolitik entgegenkommt.

"Die EZB könnte dies machen, indem sie die Zinsen am 8. September um 50 Basispunkte anhebt, während sie gleichzeitig signalisiert, dass im Oktober ein weiterer Schritt um 50 Basispunkte folgen könnte", glaubt Schmieding. Auch der Chefökonom des Bankhauses ING, Carsten Brzeski, rechnet eher mit einem 50iger-Schritt. Auch sein Fazit lautet: "Dies wäre ein Kompromiss, der die Tür offen lässt für weitere Zinsanhebungen." 

(Reuters)