Digitalisierer, Kostendrücker, umgänglicher Typ: Ralph Hamers kommt in diesem Jahr mit vielen Vorschusslorbeeren als Chef zur UBS. Doch die Coronakrise hält Hamers davon ab, schon jetzt in Gedanken bei seinem künftigen Arbeitgeber zu verweilen. Hamers ist als CEO des holländischen Finanzrisen ING derzeit mächtig gefordert.

Der Aktienkurs von ING ist seit Ausbruch der Coronakrise Ende Februar um 49 Prozent gefallen. Das ist die sechstschlechteste Performance im europäischen Bankenindex von Bloomberg, der 39 Finanzhäuser umfasst. Viel besser steht die Aktie der UBS da. Sie hat seit Krisenausbruch "bloss" 22 Prozent nachgegeben und ist damit drittbeste Bank Europas punkto Aktienperformance seit Ende Februar, wie folgende Tabelle zeigt:

Die zehn besten und schlechtesten Bankaktien Europas seit Ausbruch der Coronakrise am 20. Februar 2020 (Quelle: Bloomberg)

Der Kurssturz brachte es mit sich, dass die ING-Aktie derzeit fast zum Spottpreis zu haben ist: Das Kurs-Gewinn-Verhältnis beträgt noch 4, bei der UBS ist die Bewertungskennzahl mittlerweile wieder auf 8 gestiegen.

Wie fast immer an der Börse lügt auch der ING-Aktienkurs nicht. Als Retailbank ist ING vor allem im Zins- und Kreditgeschäft tätig. Zinseinkommen machen fast 75 Prozent der ING-Erträge aus. In angespannten Krisenzeiten ist das kein Vorteil, denn Investoren befürchten Kreditausfälle wegen Insolvenzen von Firmen und Privatkunden. Das seit Jahren anhaltende Tiefzinsumfeld spielt den Retailbanken sowieso nicht in die Hände. 

Dazu kommt es auch auf die Art der Kredite an. Vor allem dieser Faktor lastet auf dem Aktienkurs von ING. Die Bank hat unter den europäischen Finanzhäusern eine der grössten Expositionen im Öl- und Gassektor. Es sind 44 Milliarden Euro oder 5,8 Prozent des Kreditportfolios. Ähnlich betroffen sind Natixis, ABN Amro oder Crédit Agricole. 

Risiken für Abschreiber sind gestiegen

Der Hintergrund ist bekannt: Wegen der Corona-Pandemie bricht die Nachfrage für Rohwaren zusammen, und Öl ist derzeit so billig wie noch nie. Vor einer Woche war der Preis für US-Öl zum Kontraktwechsel zeitweise in den Negativbereich gerutscht. Auf dem Ölfördermarkt gibt es bereits die ersten Insolvenzen und Befürchtungen einer negativspirale. Laut Analysten haben sich die Risiken für Abschreiber bei ING demnach erhöht. 

Schliesslich wird auch die ING-Expansion in Osteuropa jetzt zum Nachteil. Unter CEO Hamers wurde das Kreditgeschäft in der Türkei forciert. Mit dem Resultat, dass ING in der Tabelle der grössten kreditgebenden europäischen Banken in der Türkei auf Platz drei liegt, hinter der spanischen BBVA und der italienischen Unicredit. Das ausstehende Volumen von ING in der Türkei beträgt 10,6 Milliarden Euro. Schwellenländer wie die Türkei treffen Krisen jeweils besonders hart, und auch hier sehen Investoren ein steigendes Kreditausfallrisiko.

Die Lage für ING ist aber nicht dermassen schlecht: Die Bank steht mit einer Kernkapitalquote von fast 15 Prozent besser da als die UBS (14 Prozent). Nur ein Zehntel der ING-Kredite im Rohwarenmarkt hängen direkt vom Ölpreis ab. Und schliesslich überstand die Bank auch die grosse Ölpreiskrise von 2014 ohne gröbere Blessuren.

Für eine "reine Weste" beim Aktienkurs wird es für Ralph Hamers bis zu seinem Wechsel zur UBS wohl dennoch nicht reichen. Dazu sind die Aussichten am Ölmarkt zu düster und die Coronakrise zu persistent. Hamers beginnt bei der UBS am 1. November.